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Koori´s japanische Top 200 Bücherliste
Nr. 175 - Aoyama Shundo (青山俊道): Pflaumenblüten im Schnee (禅の種子尼の思い出)
Die japanische Zen-Meisterin Shundo Aoyama ist weit über ihr Heimatland hinaus für die warmherzig-kluge Weise bekannt, mit der sie buddhistische Inhalte vermittelt. Ausgehend von den immer währenden Fragen nach dem Umgang mit Freude und Leid, Liebe und Hass, Leben und Tod beschreibt sie in lebensnahen Geschichten Alternativen zum hektischen, von Konkurrenz bestimmten modernen Leben - die Rückkehr zu natürlicher Einfachheit, die Harmonie in einem größeren Ganzen, ein Wertschätzen der 'kleinen Dinge' des Lebens. Die Leserinnen und Leser erfahren zudem vieles über das traditionelle und moderne Japan - über Klöster, Tempel, Religionen und das alltägliche Leben - aus der Sicht einer klugen Frau.
Shundo Aoyama ist Äbtissin eines japanischen Zen-Klosters.
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Nichts ist belanglos
Der Taxifahrer brummte vor sich hin: »Diese Arbeit ist dermaßen sinn- und wertlos! Trotzdem werde ich mein Leben lang nichts anderes tun. «
Meine Antwort kam völlig spontan: »Was heißt hier sinn- und wertlos? Sie bringen andere Leute dorthin, wo sie hinmüssen, und sind ihnen dadurch Arme und Beine. Ohne Leute wie Sie kämen Leute wie ich nie im Leben zurecht. Ein ausgefuchster Taxifahrer fährt immer so schnell, wie es nur irgend zu vertreten ist, um mich rechtzeitig ans Ziel zu bringen. Ich für mein Teil bin ständig unterwegs, aber einen Regenschirm habe ich nie dabei, weil mir das zu umständlich ist. Der Taxifahrer behütet mich auf angenehme Weise vor dem Regen und bringt mich genau dorthin, wo ich hinwill. Außerdem hilft er mir beim Tragen, nachdem ich immer mit viel Handgepäck unterwegs bin, gleich, ob ich lang oder kurz verreise. Und während ich über keinerlei Orientierungssinn verfüge, finden Taxifahrer sicher den Weg durch alle Gassen, und wenn es sein muß, fragen sie eben. Sie liefern all diejenigen sicher zu Hause ab, die den letzten Zug verpasst haben, vielleicht weil eine Besprechung verschoben wurde oder sie zu viel getrunken haben. Wenn jemand unvorhergesehen ins Krankenhaus muß, kann der Taxifahrer Leben retten. Zur Urlaubszeit oder mitten in der Nacht kann dichoft niemand dorthin bringen, wo du grade hin musst, aber auf das Taxi ist Verlaß. Hand aufs Herz, genau genommen ist die Arbeit, die Sie tun, doch sehr gut. «
Da wir mein Fahrtziel noch längst nicht erreicht hatten, machte ich gleich weiter: »Es ist meine tiefe Überzeugung, daß es unter der Sonne nichts Wertloses gibt, aber auch gar nichts. Vor kurzem hielt ich einen Vortrag in einer Fabrik, in der Uhren und Rechenmaschinen hergestellt werden. Nach dem Vortrag machte der Präsident mit mir einen Besichtigungsrundgang durch die Fabrik. Diese Fabrik beeindruckte mich tief. Ich sah, daß hier Bauteile zusam-
mengesetzt wurden, die man überhaupt nur unter dem Mikroskop sehen kann, und das am Fließband. Diese winzigen Teile werden mit einer Nadelspitze bearbeitet, und wenn sich irgendeines davon auch nur um den Bruchteil eines Millimeters nach links oder rechts verschiebt, geraten die Uhr oder die Rechenmaschine komplett aus dem Takt oder versagen den Dienst. Dabei wurde mir ganz greifbar bewußt, wie unerläßlich doch jedes Teilchen für das Funktionieren
des Ganzen ist. «
Ich spann den Gedanken weiter: »Ein Haushalt funktioniert eigentlich genau nach dem gleichen Prinzip wie diese Uhren; wenn man weiterdenkt, gilt dasselbe für eine Gesellschaft oder ein Land; und wenn man noch weiterdenkt, ist es bei Himmel und Erde und dem ganzen Universum auch nicht anders. Die meisten Leute fällen Urteile über die Dinge, und dabei arbeiten sie mit Begriffen wie hochwertig und minderwertig, wertvoll und wertlos. Aber vom Standpunkt der Wahrheit aus gibt es weder hochwertig noch minderwertig, weder wertvoll noch wertlos. Wo immer wir auch anfangen, die ganze Familie, die gesamte Gesellschaft und das ganze Universum, alles greift an allen Stellen haargenau ineinander. Unser Standpunkt ändert sich dramatisch, wenn wir erst einmal aufwachen und die Kluft zwischen den beiden Einschätzungen erkennen: der einen, die fälschlicherweise unsere eigene Arbeit für eine vernachlässigbare und mechanische Sache hält, und der anderen, der gemäß unser gesamtes Handeln gewissermaßen Himmel und Erde trägt, und zwar in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Legende erzählt, Shakyamuni Buddha habe mit einer Hand nach oben und mit der anderen nach unten gezeigt, als er geboren wurde. Vielleicht wissen Sie auch, daß er dabei sagte: >Ich allein bin geehrt in Himmel und Erde. < Damit wollte er nicht sagen, daß er besonders viel Wert habe. Er wollte sagen, daß jedes fühlende Wesen wertvoll ist. Jede Person, jede Tätigkeit, jede Blume, jeder Vogel, alles Leben ist ein großes Geschenk von Himmel und Erde, ob das den Betroffenen jetzt klar ist oder nicht.« Genau genommen war es wohl ziemlich anmaßend von mir, dem Taxifahrer so lange solche Sachen zu erzählen, aber er hörte mir aufmerksam zu. Und ich freute mich, als er sagte: »Was Sie gesagt haben, stimmt mich zuversichtlich. Ich werde mein Bestes versuchen.«
Geschichte aus "Pflaumenblüten im Schnee" von Shundo Aoyama