Zitat:Mich würde allerdings auch mal interessieren, ob es einen offiziellen oder inoffiziellen Kanon der japanischen Literatur gibt
Oh ja, den gibt es. Die "Japanische Literatur" definiert sich förmlich über Ausgabensammlungen, die Kanon-Charakter haben. "Definiert" meine ich in dem Sinne, daß es ernsthafte Meinung diverser Literaturgrößen in Japan war und ist, daß die Autoren und Werke, die in den drei großen Sammlungen enthalten sind, die japanische Literatur ausmachen, alles andere sei sub-literarisch. Diese drei großen Sammlungen sind "Nihon koten bungaku taikei (Kompendium der klassischen japanischen Literatur; 100 Bände), "Nihon koten bungaku senshû" (Gesammelte klassische japanische Literatur) und "Shin Nihon koten bungaku taikei" (Neues Kompendium der klassischen japanischen Literatur", auch 100 Bände, beendet im Jahre 2000).
Die Frage "Was gehört zur japanischen Literatur und was nicht?" ist eine der besonders heiß umstrittenen des gesamten Fachbereichs. Auch die (überaus folgenreiche) äußerst strenge Unterscheidung von "reiner Literatur" (junbungaku), die in den Anthologien und Literaturgeschichten vorkommt [Ôe Kenzaburô datierte 1986 ihren Untergang auf das Todesdatum Mishimas], von "trivialer Literatur" (tsûzokubungaku), die den quantitativ weitaus größeren Teil ausmacht, aber in Anthologien und Literaturgeschichten in der Regel komplett fehlt, ist ein Charakteristikum japanischen Literaturverständnisses.
Es gibt seit einigen Jahr(zehnt)en intensive Bemühungen seitens der Literaturwissenschaftler in Japan selbst und auch besonders in den ausländischen Japanologien, "übergangene/verschüttete Schätze" zu heben. Denn daß z. B. Matsuo Bashô, Ihara Saikaku und Chikamatsu Monzaemon die kanonischen Klassiker der Genroku-Zeit sind, liegt nur zu einem Teil daran, daß sie wirklich "gut" waren; zum größeren Teil ist der Grund darin zu suchen, daß ihre zeitgenössischen Kollegen es eben kaum/nicht geschafft haben, in die kanonische Sammlung zu gelangen. Über ihre literarische Qualität ist damit aber noch praktisch gar nichts gesagt! Auf diesem Gebiet haben die letzten Jahre schon so einiges an den Tag gebracht, und auf weitere Entdeckungen darf man zu Recht gespannt sein.