RE: Tsunami in Japan.
Freunde von uns, die schon lange in Japan gelebt haben und fließend Japanisch sprechen können, sind nach ein paar Monaten in Deutschland vor ein paar Tagen in ihr Haus nach Kyoto zurückgekehrt. Der Auszug aus einer Mail von Montag gibt einen guten Eindruck von der Stimmung zurzeit in Westjapan und zeigt sehr deutlich die Problematik der Berichterstattung in den deutschen Medien auf (mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin):
> Ich wollte zeigen, dass es jenseits der Ereignisse in Nordostjapan
> hier in Westjapan ein Alltagsleben gibt.
>
> Das Alltagsleben gestaltet sich allerdings nicht ganz wie immer. An
> den Unis werden kostenlos Arbeitsplätze und Übernachtungsmöglichkeiten
> für Studenten aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten angeboten.
> Überall wird Geld gesammelt: jedes Fest, jedes Konzert, jeder Betrieb
> sammelt! Das Wechselgeld im Supermarkt wandert in die Sammelbox.
>
> Besonders betroffen sind viele Kleinbetriebe z.B. auch hier in Kyoto.
> Heute sprach ich mit dem Besitzer einer Druckerei ein paar Häuser
> weiter: seit dem Erdbeben stehen die Maschinen still, weil der
> Papierlieferant dort im Nordosten Japans ansässig ist und die
> Herstellung stockt. Bis Ersatzpapier aus China oder Korea kommt, wird
> es Wochen dauern - und ob seine Maschinen das andersartige Papier
> verarbeiten können - das bleibt abzuwarten. Dabei müssten dringend
> neue Schulbücher für den Nordosten Japans gedruckt werden...
>
> Die Nachbarin auf der anderen Seite erzählte, dass ja im Nordosten
> Japans ein wichtiges Reisanbaugebiet ist und dass es im Herbst zu
> Engpässen kommen kann. Sie meinte "Ich hoffe, dass ich wenigstens Reis
> für meine betagte Mutter kriege, ich selbst kann auch Brot oder was
> anderes essen". In der Tat wird uns die Nahrungsmittelfrage noch
> länger begleiten - aber weniger wegen Strahlenbelastung als vielmehr
> wegen der entstehenden Versorgungsengpässe.
>
> In Nord-Ost Japan ist auf einer Länge von 400 km eine unvorstellbare
> Katastrophe passiert, und es wird noch Monate dauern, bis sich wieder
> ein kleines Stück Normalität einstellt. Die Gegend im unmittelbaren
> Umfeld des AKW Fukushima muss wegen der Strahlenbelastung aufgegeben
> werden. Die ersten Bewohner der Notunterkünfte sind bereits in andere
> Orte weiter entfernt verlegt worden. Im japanischen Fernsehen sieht
> man die Menschen viel weinen oder den Tränen nahe. Schließlich sind es
> Menschen mit Emotionen, und ich fühle mich sehr schlecht, dass ich
> einen solchen Satz überhaupt schreiben muss. Vor ausländischen
> Kamerateams bleiben die Leute gefasst - dabei würden diese doch sooo
> gerne Verzweiflung sehen!
>
> Halbwahrheiten, glatte Lügen, immer das Negative herausgestellt und
> fast hat man den Eindruck, Japan würde bewusst stigmatisiert: die
> Presse in Deutschland berichtet z.T. sehr fragwürdig. Ich muss mich aber
> hüten, diese Panik berichtigen zu wollen. Sonst komme ich selbst in
> die Ecke von Kamikaze und Samurai und dass ich nur aus Liebe zu Japan
> bereit bin, mich selbst zu opfern. So ein Blödsinn!
>
> Aber niemand will wirklich hören, dass wir hier in Kyoto sicher sind.
> Wir sind schließlich in Japan, oder? Die Strahlenbelastung bleibt zwar
> 800 km weit weg von uns, auch hat "die Strahlungswolke"
> eine andere Beschaffenheit als nach Tschernobyl - aber wer will das
> schon auseinander halten. Bisher gab es weder hier erhöhte Werte, noch
> in den anderen Landesteilen und immerhin hat Greenpeace bestätigt,
> dass die offiziellen Messwerte stimmten.
> Und dann die Berichterstattung: jetzt zieht "die Wolke" ins
> Landesinnere (da haben wirs, schwarz auf weiß). Tut sie aber nicht.
> Details, die dem Ganzen die Dramatik entziehen, will ja keiner hören
> bzw. werden (bewusst?) nicht vermittelt.
>
> Auch dass in Japan die natürliche Strahlung ohnehin nur ein Drittel
> ist von der in Deutschland, und dass die Grenzwerte für
> Strahlenbelastung in Japan viel strenger sind als bei uns - nur
> deshalb lag die Belastung beim Trinkwasser für Babys kurzzeitig in
> Teilen Tokios darüber - interessiert das jemanden?
>
> Also: Uns geht es hier gut, wir sind in gespannter Wachsamkeit wegen
> der Ereignisse, aber nicht in großer Sorge um unsere Gesundheit. Das
> ist vielen Menschen in Deutschland nicht zu vermitteln. Sie glauben,
> wir verharmlosen - schade.
>
> Es macht uns aber Mut, wenn jemand von Euch die Stärken Japans sehen
> kann. Natürlich ist dieses Desaster furchtbar, hoffentlich lernt der
> Rest der Welt daraus, und Japan wird auch eine bittere Lektion lernen
> und lernen müssen! Es hat sozusagen eine Stellvertreterrolle
> übernommen, von der andere Länder eigentlich nur profitieren können.
> Dieses Land hat Kraft und Lebensmut. Alle Betroffenen wissen, dass das
> Land solidarisch hinter ihnen steht, und wenn auch die Welt Mitleid
> hat und hilft, umso besser.
正義の味方
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 08.04.11 13:20 von atomu.)
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