Inzwischen ist der Frühling nun unübersehbar eingezogen, wenn es auch noch,
wie heute, kalte Nächte und bisweilen Frost gibt.
Deshalb hier nun ein Waka zum frühen Frühling und zudem in Frühem Klassisch-Japanisch
- wie Pfeiffer, mit 3 "F" sozusagen
Es stammt von Tokiyasu Shinnô, dem späteren 光孝天皇,
Kôkô·tennô, der von
830-887 lebte und von 884 bis 887 als 58. Kaiser Japan regierte.
きみがため はるののにいでて わかなつむ
わがころもでに ゆきはふりつつ
kimi ga tame/ haru no no ni idete/ wakana tsumu
wa ga koromode ni/ yuki ha furitsutsu
zu besseren Lesbarkeit dann auch noch mal mit Kanji versehen:
君がため 春の野に出でて 若菜つむ
わが衣手に 雪はふりつつ
Als ich für Euch auf die frühlingshaften Felder hinaustrat
und junges Grün pflückte,
fiel immer wieder Schnee auf meine Ärmel.
君,
kimi, diente früher ursprünglich als Anrede gegenüber sozial Höherstehenden,
jedoch auch schon, wie hier, als respektvolle Anrede, "Ihr", für geliebte Menschen.
(Rickmeyer übersetzt es so zB als "Für Euch, meine Gebieterin").
(edit: Golnik (-> link unten, von Botchan), übersetzt "Für Dich, Geliebte").
[Heute wird es, wenn, wohl eher gegenüber Personen, mit denen man auf
vertrautem Fuß steht (unter Männern bei engen Freunde, und von Mann zu Frau,
aber nur wenn schon eine gewisse Vertrautheit besteht, verwendet.)]
つつ als Suffix am Verb ふる, fallen (Schnee, Regen), zeigt an, das die Handlung,
also das Fallen des Schnees auf die Kimonoärmel beim Pflücken andauerte
bzw. sich wiederholte ("wieder und wieder", "immer wieder")
Was pflückt er nun, trotz Schneefall für seine Geliebe auf den
haru no no,
den Feldern im Frühling?
Mit dem
waka·na, dem junge Grün, sind hier nun nicht banale jungen Kräutern
und Gemüse gemeint, sondern die
haru no nanakusa, 春の七草, die sieben Frühlings-
kräuter.
7 ist eine Glückszahl, siehe zB die
Shichi-fuku-jin (七福神), die sieben Glücksgötter
und die sieben Frühlingskräuter und -gemüse, die bevorzugt am 7. Januar gesammelt
und gegessen wurden, sollen Übel fernhalten und vor Krankheit bewahren.
Mithin ist sein Geschenk, das er den Unbillen der Witterung zum Trotz der Geliebten
mitbringt, symbolisch als auch praktisch überauswert wertvoll und nützlich.
Die 7 haru no nanakusa sind: すずな, suzu·na, Kohlrübe; セリ, Seri, japanische Petersilie;
なずな, Nazuna, Hirtentäschel; 母子草, hahako·gusa, Ruhrkraut; 繁縷; hakobe·ra,
Vogelmiere; 仏の座, hotoke·no·za, Taubnessel und すずしろ, suzu·shiro, der Rettich.
Nebenbei bemerkt, gibt es natürlich auch noch
Aki no nanakusa, 秋の七草,
die allerdings ausgestellt und nicht gegessen werden..
Das Gedicht ist sehr bekannt, schon 905 wurde es in die erste, auf kaiserlichen
Befehl kompilierte Waka-Sammlung 古今和歌集,
Kokin·wakashû, der ("Sammlung
von Waka aus alter und neuer Zeit") aufgenommen.
Später, 1235, übernahm es 藤原定家,
Fujiwara no Teika (1162–1241) in die
bis heute berühmte Gedichtanthologie 百人一首,
hyakunin·isshu ("Hundert
Gedichte von hundert Dichtern").
Die große Popularität dieser 100 Gedichte beruht wohl nicht zuletzt auf ihrer
schon Jahrhunderte-langen Verwendung im Kartenspiel (
uta·garuta, 歌ガルタ)
und anderen Gesellschaftsspielen.
Btw. gab es 2006 übrigens in einer DJG-Veranstaltung in München von
Schülern des japanischen Instituts eine Hyakunin·isshu-Kartenspiel-
Demonstration.
Neben dem Kartenspiel inspirierte die Gedichtsammlung auch immer wieder
auch zu anderen intellektuellem Zeitvertreib:
Das oder eines der ersten humoristischen bzw. satirischen
狂歌 (kyô·ka)
Gedichte waren zB die Hyakushu Kyôka, also die "Kyôka über hundert Sorten
Schnaps" von Gyôgetsubô (1265-1328).