Tsukemono Vol.1
Vor kurzem ist mir (wieder mal) aufgefallen, daß ich hier schon seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr geschrieben habe.
Um so eher wird’s wieder mal Zeit, denn erstens soll mein Lieblingsthread ja nicht irgendwann in der Versenkung verschwinden, zweitens soll dieser Beitrag noch zur Jahreszeit passen. Und da wir ja grad mehr oder weniger Winter haben, welche Region würde da besser passen als - der aufmerksame Leser ahnt es bereits – die Berge Naganos.
Hier kündigen oft schon Ende September die ersten Frosteinbrüche beziehungsweise Schneefälle den langen Winter an, der nicht selten bis weit in den April oder gar Mai hinein dauert. Während dieser Zeit ist meist keinerlei Landwirtschaft möglich, daher spielten seit alters her ausreichende Nahrungsmittelreserven eine überlebenswichtige Rolle. Traditionell waren das Trocknen, das Einsalzen sowie das Fermentieren gebräuchliche Verfahren des Haltbarmachens, weltweit nutzten die Menschen diese Methoden, um ihre Vorräte vor dem Verderben zu bewahren.
In Japan werden so behandelte Speisen unter dem Sammelbegriff „Konservierte Lebensmittel“ (
hozon-shoku 保存食) zusammengefaßt. Typische Beispiele dafür sind gefriergetrocknete Speisen, Miso-Sojabohnenpaste und eingelegte Gemüse, auf welche ich hier und heute genauer eingehen möchte. Diese
tsukemono 漬け物 haben eine lange Tradition und landesweit Bedeutung in der japanischen Eßkultur, doch die größte Vielfalt entwickelte sich in Gebieten mit langen, kalten Winterperioden. Ausreichende Vorräte an Nahrungsmitteln waren in diesen Regionen überlebensnotwendig, diese klimatischen Bedingungen begünstigten daher im Laufe der Jahrhunderte die Entwicklung unzähliger Sorten und Geschmacksrichtungen. Berühmt sind beispielsweise die zahlreichen
tsukemono-Spezialitäten aus Kyoto, während im Vergleich dazu die Küche Tokyos vergleichsweise arm an eingelegten Gemüsesorten ist. (Dort sind dank der relativ milden Wintertemperaturen selbst in der kalten Jahreszeit noch Ernten möglich.)
Auch Nagano ist bekannt für seinen Reichtum an eingelegtem Gemüse. Temperatur und Schneefallmenge in den überdurchschnittlich langen Wintern wirkten sich ebenso wie Höhenlage und Abgeschiedenheit einzelner Gegenden förderlich auf die Vielfalt aus.
Auberginen, Rüben oder Gurken sind nur wenige Beispiele für die zahlreichen Gemüsesorten, die auf verschiedenste Art und Weise behandelt werden. Die wichtigsten Methoden sind das Einlegen in Salz, Miso oder Reiskleie (
nuka 糠). Aus der Vielzahl aller Varianten möchte ich mich auf
eingelegte Rübenblätter beschränken, die als unverzichtbare Wintervorräte sozusagen eine der typischsten Spezialitäten Naganos darstellen.
Seit jeher wurden hier die Blätter der zahlreichen lokalen Rübensorten (
kabu 蕪) unter dem allgemeinen Namen
na-zuke, was soviel wie „eingelegte Blätter“ bedeutet, für den Winter als Vorrat verarbeitet. Im Herbst werden sie meist mit Salz schichtweise in große Bottiche gepackt. Ein direkt oben aufliegender Holzdeckel mit einem schweren Stein darauf sorgt für den notwendigen Druck, so daß über Nacht ausreichend Saft aus den Blättern treten kann. Bereits nach wenigen Tagen oder Wochen sind die
tsukemono genußfertig und bleiben bis zum Frühling oder selbst in den Sommer hinein haltbar, abhängig von der verwendeten Salzmenge und den Temperaturen in der jeweiligen Region.
Unter den vielen verwendeten Arten erfreut sich eine Sorte mit dem Namen
nozawa-na 野沢菜 besonders hoher Beliebtheit.
Sie zeichnet sich durch ein extrem starkes Blattwachstum aus und erhielt ihren Namen nach dem seiner heißen Quellen wegen berühmten Badeort Nozawa-onsen 野沢温泉 in den nördlichen Bergen Naganos, wo bis in die Meiji-Zeit hinein das Hauptzentrum ihres Anbaus lag. Die in Salz eingelegten Blätter waren ein von den Badegästen sehr gern gekauftes Mitbringsel und wurden lange Zeit einfach als „Rübenkraut“ (
kabu-na 蕪菜) bezeichnet. Nachdem Nozawa-onsen ab 1918 auch als Skigebiet große Beliebtheit erlangte, stieg die Popularität dieser lokalen Spezialität unaufhaltsam an. Schließlich sorgte ihr guter Ruf dafür, daß die eingelegten Rübenblätter von den Skigästen schließlich mit dem Namen
nozawa-na bezeichnet wurden, unter welchem sie bis heute landesweit hoch geschätzt sind.
Über den Ursprung dieses Gemüses sagt eine Legende, daß der sechste Abt des in Nozawa-onsen ansässigen Zen-Tempels Kenmeiji im Jahr 1756 von einer Reise nach Kyôto Samen der Sorte
tennôji-kabu 天王寺蕪 mit nach Hause brachte, um diese ursprünglich aus Ôsaka stammende und in der Kansai-Gegend im Westen Japans weit verbreitete schneeweiße Rübe mit ihrem süßlichen Geschmack hier in seiner Heimat ebenfalls anzubauen. Allerdings blieben die Wurzelknollen überraschenderweise nur klein, statt dessen zeigten die aus den Samen gewachsenen Pflanzen ein sehr üppiges Blattwachstum.
Als Auslöser für diese Veränderungen werden oft die ungewohnten Umweltbedingungen in Nozawa-onsen angenommen, vor allem die Lage von sechshundert Metern über dem Meer und die häufigen Frosteinbrüche, die zu einer spontanen Anpassung der Pflanze führten. Allerdings ergab eine genetische Untersuchung beider Sorten, daß die so beschriebene plötzliche Entstehung von
nozawa-na aus den Samen der
tennôji-kabu zumindest extrem unwahrscheinlich ist.
Gesät um Mitte September, wächst das kältestabile
nozawa-na sehr rasch. Aus einer einzigen Rübe können bis zu zwanzig der schmalen und fleischigen Blätter sprießen, die schon im November eine Länge von fast einem Meter erreichen.
So sind auf einer Fläche von eintausend Quadratmetern Erntemengen von etwa fünf Tonnen möglich, keine andere Sorte in Japan ist derart ertragreich. Als Anspielung auf dieses üppige Wachstum wird es volkstümlich auch als [/]sanshaku-na[/i] bezeichnet, übersetzbar mit „Dreifußkraut“: die Blätter erreichen Längen von drei
shaku, einem alten japanischen Längenmaß von etwa dreißig Zentimetern.
Erst nachdem sie im späten Herbst einige Male dem Frost ausgesetzt waren, sind die Blätter reif zur Ernte, erkennbar an einer leichte Verfärbung ins Violette. Dank der kalten Temperaturen werden sie weich und erhalten ihren angenehm süßen Geschmack, der neben einer gewissen Klebrigkeit charakteristisch für dieses Gemüse ist. Das Einlegen von
nozawa-na zum Haltbarmachen über den Winter ist eine überaus wichtige und anstrengende Aufgabe in den Bergdörfern. Das Verfahren an sich wird auch als „Blätterwaschen“ (
o-na-arai お菜洗い) bezeichnet, da man die Blätter zunächst in kaltem Wasser abspült. Im Anschluß daran werden sie portionsweise mit Stroh gebündelt und anschließend abwechselnd mit Salz schichtweise in Holzbottiche gepackt.
Teilweise werden dafür dieselben Behälter genutzt, in denen zuvor im Frühjahr Miso hergestellt wurde, beispielsweise im Süden der Region von Matsumoto. Da diese Fässer vorher nicht ausgespült werden, erhält man auf diese Weise eine zusätzliche Würze.
Der verwendete Salzanteil beträgt etwa vier bis fünf Prozent, dabei wird der Teil, der bald gegessen wird, weniger gesalzen als die Vorräte, die bis ins nächste Frühjahr hinein halten sollen. Ab Mitte November können die eingelegten Rübenblätter bereits gegessen werden, am schmackhaftesten sind sie aber erst Mitte Januar, wenn die Temperaturen ihre Tiefststände erreichen und sich auf den Bottichen dünne Eisschichten bilden. Außer zu den regulären täglichen Mahlzeiten wird das
nozawa-na auch gern als Beilage zum heißen Tee gereicht, was in den eisigen Wintern der Japanischen Alpen als sehr angenehme Gewohnheit empfunden wird.
Wenn von April bis Mai der Frühling seinen Einzug hält, fermentieren Mikroorganismen allmählich die eingelegten Blätter. Sie verfärben sich daraufhin hell und nehmen einen säuerlichen Geschmack an, der wiederum als eine besondere Delikatesse geschätzt wird. Mit Wasser abgespült, kleingeschnitten und gewürzt mit Sojasoße in Öl angebraten, ergeben sie eine passende Beilage zum Reis. Der Säuerungsprozeß ist jeweils abhängig von den aktuellen Temperaturen und der verwendeten Salzmenge: ist es in einem Jahr lange sehr kalt oder wurde beim Einlegen viel Salz verwendet, setzt die Fermentierung dementsprechend verspätet ein. Wenn es andererseits schnell warm wird oder die Menge des verwendeten Salzes zu gering war, verdirbt das Gemüse rasch und verliert rasch seinen guten Geschmack.
Heute wird auch in privaten Haushalten auf dem Land immer seltener
nozawa-na selbst eingelegt, das Waschen der Blätter in dem eiskalten Wasser ist vor allem für die jüngeren Generationen eine zu anstrengende Arbeit.
Dennoch haben sich in der letzten Zeit neben der traditionellen Einlegemethode, bei der ausschließlich Salz hinzugefügt wird, auch Varianten mit zusätzlichen Würzmitteln durchgesetzt. Neben Ingwer, Pfeffer, Miso-Paste, Reiswein und roten Pfefferschoten werden unter anderem auch Schalen von Kaki-Früchten, getrocknete
konbu-Algen 昆布 sowie kleine gekochte und getrocknete Sardinen verwendet. Auf diese Weise variiert der Geschmack von Haus zu Haus, da viele Familien ihre eigene spezielle Würzmischung anwenden.
Das immense Wachstum sowie sein Geschmack bestimmen vom Zeitpunkt seines ersten Anbaus an bis heute die Popularität von
nozawa-na, schon früher war das Saatgut so begehrt, daß es gegen die zehnfache Menge an Reis eingetauscht wurde. Während der Edo-Zeit hauptsächlich im Norden und Osten des heutigen Naganos angebaut, verbreitete es sich ab der Meiji-Zeit rasch, nach dem Zweiten Weltkrieg war es schließlich in allen Regionen Naganos zu finden. Mittlerweile wird nozawa-na nahezu landesweit von Hokkaidô bis Kyûshû produziert.
Allerdings ist diese Entwicklung hin zu seiner massenhaften Herstellung nicht unproblematisch. Da es besonders gern von Touristen in Nagano gekauft wird, ist es heute das ganze Jahr hindurch erhältlich. Um den Bedarf decken zu können, wird im Winter, wenn in den heimischen Bergen selbst kein Anbau möglich ist, auf Importe von der südlich gelegenen Insel Shikoku zurückgegriffen, die dann vor Ort in Nagano in großen Mengen verarbeitet und vertrieben werden. Liebhaber sagen jedoch, daß in Supermärkten verkauftes
nozawa-na-zuke durch das Verpacken und Versenden in Plastikbeuteln an Geschmack verliert, Einheimische sprechen dann davon, daß es „sich erkälte“ (「風邪をひいてしまう」). Zusätzlich wird gesagt, daß bei diesen in großem Stil hergestellten
tsukemono Konservierungsmittel zugesetzt seien, um eine ansprechende, frische grüne Farbe zu garantieren, während echtes, traditionell hergestelltes
nozawa-na hingegen eher schildpattfarben sei...
gokiburi, der sich mit der Fortsetzung hoffentlich nicht ganz soviel Zeit läßt.