In der Uni Hamburg gibt es die Erzählung "Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder" von Shichiro Fukazawa. Nur im Moment nicht, weil ich es ausgeliehen habe.
Bei Amazon gibt es gebraucht offenbar noch eine neuere (und gebundene) Ausgabe mit Namen 'Narayama-bushiko'. Ich kann jetzt natürlich nicht sagen, ob ich eine gekürzte Ausgabe habe, aber eigentlich glaube ich es nicht.
Es handelt sich um eine recht kurze Erzählung, die ich sehr beeindruckend finde. Und siehe da, es gibt eine Geschichte. Der größte Teil der Geschichte, die auf einer "in Japan sehr bekannten Legende beruht", wird aus der Sicht O Rins erzählt, der Schluss - der Aufstieg auf den Berg - aus der Sicht des Sohnes Tappei. So weit, so ähnlich. Viele Grundszenen sind auch im Film vorhanden, wenn auch oft etwas anders eingebettet. Da gibt es z. B. das erste Zusammentreffen O Rins mit ihrer neuen Schwiegertochter oder die Schilderung der 'hungrigen' Matsu-Yan, die das Kind von Tappeis Sohn Kesakichi bekommt und in der Erzählung nicht ermordet wird.
Was ist ganz anders? Es fehlen die meisten der Schockeffekte des Films. Meiner Ansicht nach kommt dadurch die Thematik wesentlich stärker zum Tragen. Ich will hier mal das Beispiel der ermordeten Familie geben. Im Film wird ausführlich das Fangen, Wegtragen und Lebendig-Begraben der Familie zusammen mit Matsu-Yan gezeigt. Im Buch:
Zitat: Am dritten Tag darauf waren vor O Rins Haus spät in der Nacht die Schritte vieler Menschen zu hören, die ins hintere Gebirge hinaufzogen. Am nächsten Tag erfuhr man, daß die ganze Familie aus dem 'Haus, wo's regnet' verschwunden sei. 'Von jetzt an wird nicht mehr über das 'Haus, wo's regnet' gesprochen!' So wurde es im Dorf beschlossen, und niemand sprach auch nur ein Wort noch darüber.
Was man sich hier vorstellen kann, empfinde ich als viel grausamer als die offene Darstellung im Film, die nur einer von vielen ähnlichen Effekten ist. Außerdem entspricht hier das Verheimlichen der Tat der literarischen Andeutung (eben nicht Offenlegung).
Dabei ist es nicht so, dass das Buch keine Grausamkeiten berichtet. Vor allem der Aufstieg auf den Berg wird in aller Deutlichkeit geschildert. Aber es liegen keine entsorgten Babies auf den Feldern, er wird nicht darüber gewitzelt, dass diese doch gut düngen und es existiert kein Bruder mit Geruchs- und Aggressivitätsproblemen.
Auch der Umgang mit den Kindern wird hier anders geschildert. Ja, es gibt ein Gespräch darüber, dass das Kind von Matsu-Yan nach der Geburt getötet werden soll. Es wird aber nicht als sicher geschildert. Die anderen Kinder scheinen liebevoll aufgezogen zu werden, von Verkauf und Ermordung ist ansonsten nicht die Rede. Als O Rin und Tama-yan mitbekommen, dass Matsu-yan das jüngste Kind von Tappei böse kneift, sind sie sprachlos vor Unmut.
Zum Schluss will ich noch aus dem Nachwort zitieren:
Zitat: Ich wiederhole mit Nachdruck: Wenn auch das Thema augenscheinliche Bezüge zur Tradition aufweist, die sich mit dem Namen - übrigens eine vieldiskutierte Interpretation - eines berühmten Berges von Shinshu verbinden, dem Berg, Obasute, so entsprechen die geschilderten Bräuche doch keinesweges der historisch realen Vergangenheit Japans. Damit beim Leser kei Mißverständnis entsteht: Fukazawa führt uns in die Welt einer rein literarischen Fiktion.
Ich finde die Erzählung sehr gut gelungen. Im Gegensatz zum Film werden die Grausamkeiten hier viel stärker 'rübergebracht', weil die Schockeffekte, die sicher auch bestehen, entweder versteckt oder in kleinen Dosen genutzt werden. Sie verdecken nicht die Geschichte. Jetzt bin ich gespannt, auf Saschas Vergleich zwischen Film und Erzählung. Vielleicht kommt da wieder eine ganz andere Meinung heraus.