Ich bin zufällig wieder auf diesen Thread gestoßen. Tut mir leid, dass ich damals nicht weiter geantwortet hatte. Ich weiß nicht, ob Shabazza diese Frage noch quält
aber vielleicht ja doch:
Man muss bedenken, dass die Geschichten je nach Level in der Auswahl von Vokabeln und verwendeter Grammatik begrenzt sind. Die angesprochene Geschichte (女の子) ist die erste aus der Hauptreihe (Level 1, Band 1, Geschichte 1) und sowohl im Wortschatz als auch in der verwendeten Grammatik stark reduziert, also sehr einfach gehalten (was es vielleicht nicht immer einfacher macht, die Texte zu verstehen).
Ich möchte mal meine Gedanken dazu zusammenfassen:
"それは、「言葉」。" ist, wenn man den Satz im Zusammenhang mit den vorherigen und darauf folgenden Sätze sieht, eigentlich leicht zu verstehen, finde ich: Es ist die Geschichte eines Mädchens, das zusammen mit ihren Eltern in einem großen Haus lebt. In ihrem ebenso großen Kinderzimmer befindet sich alles, was sie sich wünschen könnte: Bilderbücher, Puppen, ein Klavier und sogar ein Fernseher.
Aber etwas gibt hier nicht: "Worte". Das Mädchen spricht nicht und sie lacht nicht.
言葉 wird hier, denke ich, im übertragenen Sinne verwendet - weshalb es wahrscheinlich auch durch die eckigen Klammern hervorgehoben wird. Wir verwenden im Deutschen die Anführungszeichen ja auch nicht nur, um wörtliche Rede auszudrücken, sondern auch, um auf einzelne Wörter "hervorzuheben". Mit "それは、「言葉」。" soll ausgedrückt werden, dass das Mädchen oft oder vielleicht sogar immer alleine ist und das niemand mit ihr spricht (und sie daher auch nicht mit anderen). Kommunikation ist aber wichtig, durch Kommunikation mit den Eltern und später Freunden erfahren Kinder Zuneigung und Wärme und sammeln erste Erfahrungen, wie Menschen miteinander interagieren. Wenn also die "Worte" fehlen, gibt es keine Zuneigung, keine Wärme, keine Liebe; das Mädchen ist einsam und unglücklich. Die Hintergrundbilder unterstützen diesen Eindruck mit ihren in dunklen Farbtönen zusätzlich.
Dies wird auch klarer, wenn man die Geschichte weiter liest: Dort wird erzählt, dass ihre Mutter und ihr Vater zwar auch im Haus sind, das Mädchen aber trotzdem immer alleine sei. Zudem höre sie aus dem Zimmer nebenan, wie sich ihre Eltern laut streiten und Türen geknallt werden. Man kann hier nur vermuten, dass die Situation zwischen den Eltern gespannt ist - und dies wahrscheinlich schon länger. Für Kinder ist so etwas nahezu unerträglich (und vor allem unverständlich).
Wie Shabazza ja schon angedeutet hat, zieht die Mutter mit ihrer Tochter aus dem gemeinsamen Haus aus und in ein kleines, altes Appartement ein. In diesem Appartement gibt es nichts
(also kein Klavier, keine Puppen, keine Bilderbücher, keinen Fernseher)...
Ich möchte die Geschichte nicht weiter zusammenfassen, wer es möchte, kann sich ja mal eine Ausgabe besorgen
In diesem Zusammenhang würde ich übrigens auch den Satz "女の子は「言葉」を言いません。" sehen. "Es kommen keine 'Worte' aus ihrem Mund" - Sprechen ist für Kinder normalerweise sehr interessant, sie wollen immer und überall sprechen, weil sie es intuitiv als Möglichkeit sehen, mit ihrer Umwelt zu interagieren, sich verständlich zu machen und es spielerisch üben wollen (das ist ihnen natürlich nicht klar). Mädchen spielen z. B. mit ihren Puppen und legen ihnen Worte in den Mund, sprechen für sie und spielen dabei alltägliche Situationen oder Dinge, die sie bewegen nach. Dieses kleine Mädchen, aus dessen Mund weder ein paar Worte noch ein Lachen kommt, das keine Worte sagt, ist sehr wahrscheinlich nicht glücklich.
Übrigens: Ich würde die Geschichten nicht übersetzen. Der Gedanke ist ja gerade, dass man die Geschichten einfach lesen soll, ohne ein Wörterbuch zu benutzen, um unbekannte Wörter nachzuschlagen. Dadurch soll man lernen, unbekannte Vokabeln, Grammatikformen oder sogar kleine Passagen einfach zu überlesen und sie sich aus dem Zusammenhang heraus zu erschließen. Wenn eine Geschichte so nicht lesbar ist, soll man entweder zu einer anderen bzw. leichteren Geschichte greifen oder erst einmal anderweitig weiterlernen, um später, mit einem größeren Wortschatz ausgerüstet, weiterzulesen.
Dies soll dazu führen, dass man anfängt, wirklich mit Spaß zu lesen und nicht das Gefühl entwickelt, es sei anstrengend, Japanisch zu lesen. Natürlich kann man dann später, nachdem man die einzelnen Geschichten - vielleicht sogar wiederholt - durchgelesen hat, ein paar Vokabeln nachschlagen um zu schauen, ob man mit seinen Vermutungen richtig lag oder komplett unbekannte Wörter nachzuschlagen, aber das ist nicht das vornehmliche Ziel dieser Geschichtensammlung.
Da sowohl Wortschatz als auch Grammatik anfangs stark reduziert sind, sollte es eigentlich möglich sein, die Geschichten auch ohne "innere Übersetzung" zu lesen - will sagen: Wenn ich z. B. 女の子 lese, denke ich nicht "Mädchen" sondern verstehe das Wort direkt. Dadurch erhöht man das Lesetempo und den Spaß beim Lesen. Verwendet man die Bücher anders, liest also für den eigenen Kenntnisstand zu schwierige Geschichten und unterbricht den Lesefluss durch häufiges Verwenden von Wörterbüchern und Kanjilexika, dann hat man zwar immer noch einige nette Geschichten erarbeitet, verliert aber die Möglichkeit, den Hauptzweck der Geschichtsreihe zu erfahren.
Viel eher würde ich versuchen, die Geschichten
auf Japanisch zusammenzufassen - das wäre ein gutes Training, denke ich, welches durch den graduellen Anstieg des Schwierigkeitsgrades (Länge/Wortschatz/Grammatik) unterstützt wird.
Nachtrag: Wenn ich mir überlege, dass mein Beitrag jetzt wahrscheinlich mehr als doppelt soviel Wörter umfasst als die Geschichte, um die es hier geht…