Die Liste der japanischen Physiknobelpreisträger wird 2015
um einen weiteren Namen länger. Gemeinsam mit dem Kanadier Arthur B. McDonald wird
Takaaki Kajita 梶田 隆章 geehrt
Zitat:“for the discovery of neutrino oscillations, which shows that neutrinos have mass.”
素粒子「ニュートリノ」が質量を持つことを示すニュートリノ振動の発見
Hier ein wenig Hintergrund dazu.
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Dass sie sich rar machten, kann man Neutrinos eigentlich nicht vorwerfen. Die Sonne und diverse kosmische Quellen produzieren diese Elementarteilchen massenweise, viele entstehen beim Aufprall geladener Teilchen aus dem Sonnenwind und anderer kosmischer Strahlung auf die Erdatmosphäre, und es gibt auch noch einen Neutrino-Rückstand aus der heißen Frühzeit des Universums, ähnlich der
kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung. Tausende Milliarden von Neutrinos durchströmen den menschlichen Körper pro Sekunde.
Von all dem bemerken wir aber normalerweise nichts, denn die scheuen Teilchen wechselwirken nur extrem selten mit „gewöhnlicher“ Materie. Die allermeisten fliegen nicht nur durch uns, sondern gleich durch die ganze Erde einfach hindurch wie durch leeren Raum.
Neutrinoforscher müssen nach den wenigen Ausnahmen Ausschau halten. Interagiert eines doch einmal mit einem Atomkern oder Elektron, so entsteht gewöhnlich ein schnelles, geladenes Teilchen – je nach Neutrino-Sorte (es gibt drei sogenannte
flavours, „Geschmacksrichtungen”) ein Elektron, ein Muon oder ein kurzlebiges Tau-Lepton.
Materieteilchen im Standardmodell der Elementarteilchen;
oben die drei Neutrino-Flavours, darunter Elektron, Muon und Tau-Lepton.
Findet dies in einem durchsichtigen Medium wie Wasser statt, in dem die entstandenen geladenen Teilchen schneller als die dort herabgesetzte Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind, so entsteht ein charakteristischer, kegelförmiger Lichtblitz, nicht unähnlich dem
Mach-Kegel eines Überschallflugzeugs (
Tscherenkow-Strahlung). Dieses Licht kann man mit empfindlichen Sensoren (
Photomultiplier-Röhren) messen.
Das ist das Grundprinzip eines wichtigen Neutrinodetektor-Typs: Man nehme einen Tank, pflastere seine Hülle innen mit Photomultipliern, fülle ihn mit hochreinem Wasser und warte auf Tscherenkow-Blitze. Um allerdings eine Chance zu haben, in endlicher Zeit eine nennenswerte Zahl von Ereignissen zu registrieren, muss der Tank möglichst groß sein. Und damit trivialeres, etwa Elektronen und Muonen aus der Höhenstrahlung, nicht ständig dazwischenfunkt, installiert man das ganze vorzugsweise tief unter der Erde, wo außer Neutrinos kaum noch etwas ankommt.
Dann erhält man so etwas:
Das ist der
Super-Kamiokande-Detektor, gelegen 1000 Meter unter der Erdoberfläche in einer alten Mine nahe Kamioka 神岡 (heute Teil der Stadt Hida 飛驒市) in der Präfektur Gifu – 50.000 Tonnen hochreines Wasser, umgeben von 11.200 Photomultiplier-Röhren, in Betrieb seit 1996. Das Foto entstand während der Erstbefüllung und ziert in so gut wie jedem Vortrag zum Thema eine Folie. Ein noch zwanzigmal größerer Detektor,
Hyper-Kamiokande, soll 2025 in Betrieb gehen.
(Das um eine Größenordnung kleinere Vorgängerexperiment,
Kamiokande, hat übrigens bereits 2002 seinem „Architekten“
Masatoshi Koshiba 小柴 昌俊 einen Nobelpreisanteil eingebracht. Zu den berühmtesten Ergebnissen von Kamiokande zählt die Messung von Neutrinos, die bei der rund 160.000 Lichtjahre entfernten Sternexplosion
Supernova 1987A freigesetzt wurden.)
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Für Kajitas Nobelpreis spielen atmosphärische Muon-Neutrinos die Hauptrolle. Sie entstehen dort, wo kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre trifft. Da die Erdmasse für sie, wie erwähnt, kein Hindernis darstellt, würde man erwarten, zumindest im Tagesmittel von oben und unten etwa dieselbe Menge von ihnen zu registrieren.
Tatsächlich aber war Kajita und seinen Kollegen schon zu Kamiokande-Zeiten aufgefallen, dass von unten weniger Muon-Neutrinos registriert wurden als erwartet. Mit Daten von Super-Kamiokande konnten sie dies schließlich statistisch einwandfrei belegen.
Die Erklärung dafür liefern die sogenannten
Neutrino-Oszillationen. Danach kann ein quantenmechanischer Zustand, in dem ein Neutrino eine bestimmte „Geschmacksrichtung” hat (also eine klare Identität als zum Beispiel Muon- statt als Elektron- oder Tau-Neutrino), kein statischer Zustand sein, sondern besteht aus einer Überlagerung von mehreren solchen. Die Interferenz dieser Zustände führt dazu, dass die Flavour-Eigenschaft „oszilliert”: Ein als Muon-Neutrino entstandenes Teilchen kann zu späteren Zeiten mit periodisch schwankenden Wahrscheinlichkeiten auch als Elektron- oder Tau-Neutrino registriert werden.
Genau das war mit Kajitas atmosphärischen Neutrinos passiert: Die als Muon-Neutrinos auf der anderen Seite der Erde entstandenen Teilchen waren nach dem 12.800 Kilometer langen Weg durch die Erde bereits in einen Zustand oszilliert, in dem ein großer Teil von ihnen als Elektron-Neutrinos detektiert wurde. Dazu passen die Daten von Super-Kamiokande auch quantitativ sehr gut.
Arthur Macdonald und seine Mitarbeiter lieferten etwas später einen weiteren starken Hinweis. Sie untersuchten die Neutrinos, die direkt von der Sonne kommen und stellten fest, dass ihre gemessene Zusammensetzung ohne Oszillation nicht zu unserem Verständnis der Sonnenphysik passt.
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Diese Oszillationen sind theoretisch nur möglich, wenn Neutrinos Masse besitzen. Ob dies der Fall ist, war zuvor unbekannt. Klar war, dass sie sehr leicht sein müssen, sonst wären beispielsweise die Neutrinos von der Supernova 1987A deutlich später angekommen als deren Licht, und das war nicht der Fall. Deshalb ging man der Einfachheit halber gerne davon aus, dass sie ganz masselos seien; für die Möglichkeit, dass sich dies als falsch erweist, war man freilich stets offen.
Die Entdeckung der Neutrino-Oszillationen hat diese Frage entschieden, und das wird dieses Jahr durch den Nobelpreis gewürdigt.