Nach längerer Zeit bin ich über die Beschäftigung mit der Tokugawa-Zeit wieder mal auf das
Thema "japanische Pangramme" gestoßen.
Eines dieser Pangramme aus der Edo-Zeit ist das
君臣歌 (Kunshin- bzw. Kimi-no-Makura Uta)
von
Hosoi Kōtaku (細井広沢, 1658 – 1738) , eines in Edo hochangesehenen Universal-Gelehrten
der neokonfuzianische Schule.
Sowohl sein Leben und Wirken, als auch sein Pangramm und dessen Entstehungsgeschichte fand ich
so interessant, dass ich den thread damit dann doch mal wieder fortsetzen wollte.
Hosoi Koutaku veröffentlichte zahlreiche bedeutende Schriften zur Astronomie, Landvermessung,
Mathematik und zur Militär-Wissenschaft. In seinem 1717 erschienenem, dreibändigem Werk
秘伝地域図法大全書, über die "Geheimen Methoden der Landvermessung und Kartierung" führte er
in Japan nicht nur zum ersten Mal den technischen Begriff "Landvermessung (測量)" ein, sondern
beschreibt zugleich auch zahlreiche astronomische und geodätische Instrumente aus der westlichen
Welt, wie das Astrolabium (イスタラビヨ, port: astrolábio), den Kompass (コンパス, span: compass), den
Quadranten (ワタランテ, port: quadrante bzw. クハダランテイ, span: cuadrante) und den Meßtisch 量盤.
(Beispielseite aus dem 秘伝地域図法大全書, Quelle: 国立国会図書館)
An dieser Stelle sei ein
kurzer Exkurs zur Entwickung der Mathematik in Japan gestattet:
In Japan hatte sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluss chinesischer Mathematik-
bücher, die über Korea nach Japan gelangten, allmählich die
Wasan (和算) sogenannte "japanische
Mathematik" entwickelt.
Waren zunächst chinesischen Werke, wie vor allem das Suanxue Qimeng (算學啟蒙‚ "Einführung in
mathematische Studien") von Zhu Shijie (朱世傑), das Suanfa (算法‚ "Methoden der Mathematik") von
Yang Hui (楊輝), sowie das Han-zeitlichen Jiuzhang Suanshu (九章算術‚ "Die neun Kapitel der mathema-
tischen Kunst") studiert und kommentiert worden, wurden sie bald von den japanischen Mathematikern
auch durch eigenständige Weiterentwicklungen ergänzt oder ersetzt. Der Begriff Wasan (和算) wurde
dabei bewußt in Abgrenzung zur sogenannten
Yōsan (洋算), der "westliche Mathematik" verwendet,
die zunächst von den chinesischen und japanischen Zeitgenossen nur selten zur Kenntnis genommen
wurden.
Im 17. und 18. Jahrhundert waren chinesischen und japanischen Gelehrten dann aber doch zunehmend
mit den wissenschaftlichen und technischen Herausforderungen aus dem Westen konfrontiert.
Zur Stärkung der traditionellen Wissenschaft bedienten sie sich aber noch lange der klassischen, konfu-
zianischen Schriften, wie dem Zhouli (周禮), dem Buch der "Riten der Zhou", und dem Yijing (易經), dem
"Buch der Wandlungen" und deren vielfältigen, über die Jahrhunderte entstandenen Kommentaren und
neokonfuzianischen Folgewerken.
Der Naturforscher
Kaibara Ekiken (貝原 益軒, 1630-1714) leistete dabei einen entscheidenen Beitrag
zur Verbreitung des neokonfuzianischen Gedankengutes in der japanischen Gesellschaft.
Kaibara Ekiken
Hierin folgte er seinem großen chinesischen Vorbild
Zhu Xi (朱熹, 1130-1200), dem berühmtesten
Neokonfuzianer, der das konfuzianische Gedankengut nach Jahrhunderten politischer Wirren
während der Song-Dynastie neu belebte indem er auch speziell für die einfacheren Schichten
gedachte Handbücher verfasste.
Zhu Xi
Neben seinen wissenschaftlichen Studien, in denen Kaibara Ekiken großen Wert auf eigene
Beobachtung und Erfahrung legte und die Wichtigkeit mathematischer Studien betonte,
verfasste er zahlreiche leicht verständlicher Werke, durch die er konfuzianische Prinzipien im
japanischen Alltag zu verankern suchte.
In seiner
"Abhandlung über die Nichtdivergenz von Shintōismus und Konfuzianismus"
(神儒並行不相悖論) führt er aus, dass der grundlegende Weg (道) des Menschen im Einklang
mit Himmel und Erde (天地) sowohl im Shintō (神道) als auch im Konfuzianismus (儒道) zu finden
sei (神儒一致) und beide einander stützen, während der Buddhismus den Beziehungen der
Menschen untereinander in dieser Welt (此の世) nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenke.
Aufgrund des offensichtlich hohen praktischen Wertes setzten sich japanische Gelehrte, wie
Miyake Shosai (三宅尚斎, 1662-1741) und
Hosoi Kōtaku (1658–1738), zunehmend mit den
westlichen wissenschaftlich-technischen Methoden auseinander und versuchten diese mit dem
neokonfuzianischen Gedankengut zu vereinen.
Hosoi Koutaku war zugleich ein Meister der Kalligraphie und Dichtkunst. Sein Kalligraphie-Lehrer war
kein Geringerer als 北島雪山, Kitajima Setsuzan (1636-1697), der maßgeblich dazu beitrug, den
chinesischen Kalligraphie-Stil im Japan der Edo-Zeit populär zu machen.
Nach langer Vorrede hier nun das Pangramm dass er
als Alternative zum buddhistischen Iroha,
aus neokonfuzianischer Sicht als Lehrgedicht für seine Schüler schrieb (auch die angeführte
Hiragana-Transskription stammt auch von ihm selbst, was für die Interpretation sehr wichtig ist):
君臣
親子妹背 兄弟群
井堀田植 末繁
天地栄 世侘
舟櫓縄
きみまくら
おやこいもせに えとむれぬ
ゐほりたうへて すゑしげる
あめつちさかゆ よをわびそ
ふねのろなは
Zunächst ist man gewillt, nah am Text wie folgt zu übersetzen:
Herrscher und Volk,
Eltern und Kinder, Mann und Frau, Jung und Alt bilden zweifellos eine Gruppe.
Wenn ihr Brunnen baut und Reis anpflanzt, so wird es den Nachkommen gut gehen.
Himmel und Erde werden gedeihen, sorgt euch nicht um die Welt
- das Ruder ist mit dem Seil am Schiffboden festgemacht.
1) 君臣 親子妹背 兄弟群
> Zu Beginn zählt Hosoi die drei grundlegenden Beziehungen im Konfuzianismus
三綱 (さんこう)
zwischen Herrscher und Untertan, Eltern und Kindern sowie Ehemann und Ehefrau auf. Wobei
statt "Eltern und Kinder" in der Regel "Vater und Sohn" genannt werden:
Mit
君臣親子妹背 gelingt es ihm, unter Verwendung der Lesung きみまくら für 君臣, die üblicher-
weise
君臣父子夫婦 (かんしんふしふうふ) genannten 三綱 "pangrammgerecht" ohne Wiederholung
einer More darzustellen.
>
に ist hier Additiv und bezeichnet die Anreihung sachlich zusammengehörender Dinge.
群れる (= sich sammeln, eine Gruppe, Scharr, Menge etc. bilden, mit Betonung auf die enge
Zusammengehörigkeit der Teilnehmer) folgt das Hilfsverb
–ぬ, das vollendete Vorgänge
kennzeichnet und zugleich betont, das dies ohne Zweifel so sei.
>
兄弟, wörtlich älterer und jüngerer Bruder, beschreibt im konfuzianischen Kontext in
der Regel die Beziehung von Alt und Jung. Da Hosoi Kōtaku hier aber die Lesung えと wählt,
spielt er damit auf den
60iger Zyklus (干支 ) an, nach dem in China Zeit und Raum
traditionell eingeteilt wurden. Dieser Zyklus ergibt sich aus der Kombination der
12 Erdzweige
(十二支) mit den
10 Himmelsstämmen (十干), die sich wiederum aus der Kombination der
5 Elemente oder Wandlungsphasen (五行) mit der
Ying/Yang-Polarität (陰/陽) ergeben.
Zur besseren Vorstellung eine graphische Darstellung der Herleitung der 10 十干 aus den 5 五行
in Kombination mit 陰 und 陽:
und der Herleitung des 干支-Zyklus aus 十干 und 十二支 mit 陰/陽 = blaue/weiße Felder:
Wie man sieht, wird in den Schriften oft die Konvention
Ying 陽 = 兄 und
Yang 陰 = 弟 ver-
wendet und das Kompositum 兄弟 gleichwertig für 干支 gebraucht. 兄弟 kann damit synonym
für die Erde und Himmel übergreifende Ordnung interpretiert und der Gedichtanfang freier
so verstanden werden kann:
Herrscher und Volk,
Eltern und Kinder, Mann und Frau sind Teil der Himmel und Erde umfassenden Ordnung.
2) 井堀田植 末繁:
>
井(ゐ) ist ein Brunnen oder Wasserlauf aus dem Trink- oder Beregnungswasser geschöpft
wird,
掘る = graben, auschachten und
田植 das Reispflanzen.
て fungiert als Satzverbindungspartikel (接続助詞) und beschreibt hier Ursache(井堀田植) und
Wirkung (末繁) -> wenn.. dann.
末(すゑ) wird in vielerlei Art gebraucht, zB. für Zukunft, Ergebnis, Ende oder Nachkommen.
In Kombination mit dem Verb
繁る (üppig wachsen, gedeihen) dürften hier die Nachkommen
gemeint sein:
Wenn ihr Brunnen baut und Reis anpflanzt, so wird es den Nachkommen gut gehen.
3) 天地栄 世侘 (あめつちさかゆ よをわびそ):
>
天地 (あめつち)beschreibt die Gesamtheit von Himmel und Erde, einschließlich der Menschen.
栄ゆ (さかゆ)entspricht dem modernen Verb 栄える = blühen, gedeihen.
Wir finden hier eine klassische Formulierung, wie sie sich auch schon im Manyôshû findet:
「天地(あめつち)のさかゆる時に (in万葉集, 九九六) 」= modern: "天も地も繁栄しているこの時代に".
>
..そ ist verkürzt aus = 「な…そ」, nach der Heian-Zeit ist な oft weggefallen.
「(な)わびそ」entspricht modern 悲しく思うな = 気落ちするな, also: sorgt euch nicht.
Himmel und Erde werden gedeihen, sorgt euch nicht um die Welt
4) 舟櫓縄
> 櫓縄, auch 艪縄 (ろ‐なわ = ろ‐なは) ist das Seil mit dem der obere Teil des Ruders am
Schiffsboden festgemacht wird. Hier steht es wohl synonym für "Kurshalten" = nach
den Prinzipien leben.
- das Ruder ist mit dem Seil am Schiffboden festgemacht.
Bekannt ist, das Hosoi lange über ein eingängiges Merkgedicht für seine Schüler nachgedacht
hatte, wollte er doch eine Alternative zum buddhistischen Iroha-Uta finden.
Gerade die Gelehrten seiner Zeit standen dem Buddhismus kritisch gegenüber, weil dieser
sich zu wenig um das gesellschaftliche Gemeinwohl kümmern würde.
Vor allem die damals übliche esoterisch-buddhistische Wissensvermittlung, bei der die
Geheimlehren, nur mündlich, 口伝 (くでん), oder gar ohne Worte "unmittelbar von Herz zu Herz"
(以心伝心の間柄)vom Lehrer an seinen Schüler weitergegeben wurden, stieß auf Ablehnung
und war dem Tempo und den Bedürfnissen der neuen Zeit nicht mehr angemessen.
Man setzte sich dafür ein das Wissen und Lehre allgemein zugänglich werden sollten.
Der Einfluss der westlichen Wissenschaften und die Verbreitung von Büchern taten hierzu
ein übrigens.
Kerngedanke des Neokonfuzianismus war, das Himmel, Erde und Mensch Teile eines
klare Beziehungsgeflechtes sind und es für jeden einzelnen einen festen Platz in dieser
universellen Hierarchie gibt. Wenn der größte Wert jetzt auch darauf gelegt wurde dem
Wohl der Gemeinschaft zu dienen, so war es doch die Aufgabe eines jeden Einzelnen,
im Rahmen seiner Möglichkeiten seine Fähigkeiten zu entwickeln und sein Wissen zu
erweitern.
Mensch und Himmel stehen dabei in wechselseitigen Beziehungen und gute Taten der
Menschen können die Harmonie des Ganzen fördern, schlechte Taten aber das Gleich-
gewicht zwischen Kräften empfindlich stören und Unglück auf die ganze Gemeinschaft
ziehen.
Die Verantwortung des Einzelnen für die Gesamtheit ist dabei umso größer, je höher er
in der gesellschaftlichen Hierarchie stand.
Oft wird der Neokonfuzianismus als Staatsphilosophie des Tokugawa-Shogunats bezeichnet.
Dies ist jedoch nicht korrekt.
Dem Shogunat kam die neokonfuzianische Sicht zur Stärkung der Stabilität der Gesellschaft
sehr gelegen, aber für die Etablierung ihrer Regierungs-Ideologie bediente sie sich eines
Gemenges aus Shintoismus, Neokonfuzianismus, Buddhismus und Volksglauben. Shintoismus
und Volksglauben lieferten mythologisierenden Hintergrund und der Neokonfuzianismus
steuerte die aus den Prinzipien abgeleiteten Argumente und Verfahrensweisen bei.
Um die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens in Japan zu behalten wurde die Stellung des
Shoguns auf einem göttlichen Paradigma gegründet und die soziale Ordnung auf allen Ebenen
der Gesellschaft kosmologisiert. Die so geschaffenen Ordnungsstrukturen für das soziale
Verhalten bildete letztendlich die ausgewogene Basis für eine 250jährige Herrschaft.
Interessanterweise gab es schon seit dem 15. Jahrhundert bei einzelnen shintoistischen Schulen
eine Einverleibung neokonfuzianischer Elemente. So wurde das japanische Urgötterpaar
Izanagi no Mikoto (伊邪那岐命) und
Izanami no Mikoto (伊邪那美命) von
Yoshida Kanetomo (吉田 兼倶, 1435 - 1511) mit dem Ying/Yang-Prinzip gleichgesetzt.
Izanagi und Izanami