Zitat:wenn der Autor keinen klaren Standpunkt hat
Hm... Ich denke, jetzt übertreibst Du doch sehr. Burumas "Standpunkt" wird - trotz eines gewissen Schwebezustandes (dazu unten mehr) - durchaus deutlich. Oder wie würdest Du solche Sätze bezeichnen, wie z. B. den - recht wahllos herausgegriffenen - folgenden?
[S. 61:] Die Japaner haben dem Leid, das sie anderen zugefügt haben, im Vergleich zu den Westdeutschen weniger Aufmerksamkeit geschenkt und waren eher geneigt, die Schuld anderen anzulasten. Und die freiheitlich-demokratische Staatsform [...] war in Japan bei weitem nicht so erfolgreich wie in der Bundesrepublik...
Aber in gewisser Weise hast Du schon recht: Buruma drängt sich mit seiner Meinung nicht in den Vordergrund. Und sein Buch ist auch nicht nach dem Muster "Ich habe folgende Ansicht und stütze sie durch folgende Argumente" geschrieben. Wer DAS erwartet, wird sicher enttäuscht sein.
Burumas Buch ist das Werk eines Journalisten. Und guter Journalismus zeichnet sich m. E. dadurch aus, daß er informiert. Natürlich wird durch die Auswahl des Materials bereits eine gewisse Interpretation erreicht, aber ich denke: die Auswahltechnik des Autors ist es gerade, die diesen Schwebezustand ERZEUGT, in dem nicht immer so klar wie in dem Zitat oben deutlich wird, was Buruma denkt; denn er stellt konsequent sich Entsprechendes in Japan und Deutschland vergleichend gegenüber (das ist gleichsam sein roter Faden); so ist er durch seine eigene Auswahltechnik GEZWUNGEN, der Gedenkstätte Hiroshima (bei der man unschwer erkennt, wie sehr es ihm am Herzen lag, darüber zu berichten) eben die von Auschwitz an die Seite stellen, auch wenn er von Auschwitz enttäuscht war und sein diesbezüglicher Bericht dadurch der Bildung einer in sich stimmigen Meinung über Burumas "Standpunkt" eher abträglich ist.
Hätte er das Ziel gehabt, ein Buch darüber zu schreiben, wie ER die Sache sieht, dann hätte er DIESE Auswahltechnik nicht angewandt, sondern eine, die es ihm frei erlaubte, Sachen zu erwähnen, die seinen "Standpunkt" stützen, und Sachen zu übergehen, zu denen er sich keine rechte Meinung bilden konnte bzw. die seinem "Standpunkt" vielleicht sogar zuwiderlaufen. Das ist bei der gewählten Technik aber nicht ohne Weiteres möglich. Denn wenn er diese anwendet, muß er notwendigerweise - wenn er über A sprechen will - auch über B sprechen... auch wenn B seinem "Standpunkt" nicht direkt zuträglich ist oder ihm sogar widerspricht.
Wie gesagt: Das ist das Werk eines Journalisten. Und deswegen finden sich - in gutem Stil des informierenden Gewerbes - wesentlich mehr "XY dagegen vertritt die Ansicht..."-Sätze als "Ich vertrete die Ansicht..."-Sätze.
Ich finde, gerade zu diesem Themenkreis gibt es eine schier unendliche Fülle an wertender, urteilender, verurteilender und die eigenen Ansichten herausstreichender "Standpunkt"-Literatur. (Hätte Buruma auch ein solches Buch geschrieben, wäre es eines von hundert anderen.) Es gibt zu der Problematik aber sehr wenig - noch dazu sehr gut lesbare (!) - "Informations"-Literatur. In meinen Augen ist das - gerade bei diesem Themenkreis, in dem man sich für gewöhnlich die "Standpunkte" gegenseitig um die Ohren schlägt - nach wie vor ein Gütesiegel. Ich persönlich empfand das Buch als wohltuend gegenüber den gängigen "Standpunkt"-Arbeiten.
Und als Nachsatz: Man muß das Buch natürlich nicht mögen. Und es ist ja auch völlig in Ordnung, wenn sich hier auch kritische Stimmen dazu finden. Dann ist der geneigte Foren-Leser, der uns bis hierher noch gefolgt ist, in einer ähnlichen Lage, wie der Leser des Buches: Er muß selbst sehen, was er von dem Ganzen zu halten hat...