Stimmt, das sehe ich auch so. Eigentlich wollte diesen Punkt auch noch in dem Beitrag oben unterbringen, aber er erschien mir schon lang genug
Das ist genau der Unterschied, aus welchem die japanische Lehrmethode für Kanji eben
nur bedingt für im Ausland lebende Japanisch-Lernende (oder überhaupt Nicht-Japanisch-Muttersprachler) geeignet ist.
Ein japanisches Kind kann schon fließend sprechen und verstehen, wenn es in die Schule kommt. Wie bei uns die Kinder teilweise auch schon vor der Grundschule lesen können, beherrschen japanische Kinder bis dahin mindestens schon die Kana und einige Kanji.
Überall werden sie auf die Schönheit und Ästhetik von Kanji aufmerksam gemacht, viele Kindersendungen im Fernsehen beschäftigen sich mit Kanji sowie deren Bedeutungen und Lesungen - ähnlich wie bei uns bzw. in Amerika z. B. die Sesamstraße mit dem Alphabet. Kinderbücher werden schon recht früh mit Kanji versehen, deren Lesung mit Furigana angegeben werden. Die Zeichen stehen in den Büchern, Zeitschriften und Magazinen, die die Eltern lesen, auf Straßenschildern, auf Artikelbeschreibungen im Kombini, in der Werbung - einfach überall. Sie werden süß verziert, verniedlicht, es gibt Gameshows im Fernsehen, die sich nur mit Kanji beschäftigen - Die Kinder kommen einfach nicht daran vorbei.
Wenn japanische Kinder in die Schule kommen und offiziell ihre ersten Zeichen lernen, haben sie bewusst und unbewusst schon so einige Kanji in sich aufgenommen und sie können sich fließend unterhalten. Jeden Tag lernen sie neue Vokabeln hinzu, indem sie mit Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern, Angestellten und anderen kommunizieren, weiter haben Radio, Fernsehen, Schule und zunehmend auch das Lesen Einfluss auf die Entwicklung des Wortschatzes.
Wenn sie also das erste Mal in der Schule beispielsweise 日本 lesen sollen, werden sie es schon können - vielleicht auch ohne sämtliche On- und Kun-Lesungen von 日 und 本 benennen zu können. Und selbst bei Vokabeln mit neuen Kanji müssen sie nur die Zeichen lernen - die Vokabel kennen sie meist schon vorher. Natürlich gibt es auch neue Vokabeln, aber ich behaupte einfach mal, dass der Gesamtwortschatz eines Kindes hüben wie drüben weit höher ist, als die Vokabeln, die es in der Schule schreiben lernt.
Außerdem haben japanische Kinder noch einen großen Vorteil: Es gibt natürlich in Japan, genau wie bei uns für deutsche Kinder, Unmengen an didaktisch aufbereitetem Lesematerial für die verschiedenen Schulklassen und Alterstufen, in denen aber nicht nur die Grammatik und der Satzbau angepasst ist, sondern auch die Verwendung der Kanji. Kinderbücher sind anfangs vollständig in Hiragana geschrieben, Kanji werden behutsam eingeführt, halten sich an die Jōyō-Kanji-Liste und werden erst einmal zu großen Teilen mit Furigana versehen. Je höher die Altersgruppe ist, desto öfter wird auf die Verwendung von Furigana verzichtet (z. B. bei den Vokabeln, die oft vorkommen oder schon im letzten Schuljahr dran waren). So wird sichergestellt, dass das Lesen für die Kinder nicht gleich zu einer Tortur wird und sie die gelernten Kenntnisse anwenden und damit festigen.
Wir haben das Problem, dass wir an dieses Lesematerial nicht so leicht herankommen - zudem ist es mit einem großen Kostenfaktor verbunden. Die paar Texte in den Lehrbüchern reichen bei Weitem nicht aus, um den Vokabelschatz nennenswert aufzubauen und den Schüler an das Lesen der für uns fremdartigen Zeichen zu gewöhnen (Ausnahme: Minna no nihongo). Da wird man leider doch ziemlich allein gelassen und das Lesen ist sicherlich für viele Lernwillige zunächst eher eine Tortur denn ein Quell der Freude. Mangels leicht verfügbarem, didaktisch aufbereitetem Material wird man viel zu spät an das Lesen herangeführt - aber Lesen trainiert nicht nur die Lesefähigkeit, sondern erweitert auch den Wortschatz, verbessert das Sprachgefühl und baut mögliche Blockaden ab (viele von uns können sich das nicht mehr vorstellen, aber für einen Anfänger sind Kana/Kanji einfach zur zusammenhanglose Striche...). Natürlich gibt es auch so einiges Material für Kinder im Internet, aber bis man dieses Material selbst finden kann, ist man eigentlich schon zu weit für diese Webseiten.
Ich denke, jeder, der sich schon eine Weile damit beschäftigt, wird mir darin zustimmen, dass man umso leichter auf die richtige Lesung auch unbekannter Vokabeln kommt, je umfassender das Wissen um Kanji, deren Bedeutungen und einzelnen Lesungen ist und je mehr Erfahrung man im Umgang mit mit der Zusammensetzung von Lesungen hat, welche sich meist gleichzeitig mit dem Aufbau des Gesamtwortschatzes entwickelt.
Ich sehe beim Lesen von Texten 3 Möglichkeiten:
- Vokabel bekannt, Schreibweise nicht / Bedeutung und Lesungen der betreffenden Kanji bekannt
Wenn ich Glück habe, kenne ich die Vokabel schon, wusste nur noch nicht, wie sie geschrieben wird. Kenne ich die Lesungen der einzelnen Kanji, kann ich mit einiger Erfahrung auf die richtige Lesung der Vokabel schließen. Dadurch benötige ich in diesem Fall kein Lexikon mehr und kann einfach weiterlesen, da ich mich ja an die mir bekannte Vokabel erinnere, sobald ich die richtige Lesung habe und damit die Richtigkeit schnell überprüfen kann, da diese Vokabel sich nahtlos in den Satz einfügt. Je öfter ich diese gerade ermittelte Lesart in verschiedenen Texten und Zusammenhängen sehe/lese, desto besser kann ich ihren Bedeutungsgehalt einschätzen und desto schneller werde ich sie auch ohne weiteres Nachdenken lesen können.
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- Vokabel nicht bekannt / Bedeutung und Lesungen der betreffenden Kanji bekannt
Auch dieser Fall behindert im Allgemeinen nicht so stark. Wie schon erwähnt: Mit ein wenig Erfahrung kann man recht schnell auf eine gebräuchliche - und meist richtige - Lesart der Kanji kommen. Kenne ich aber die Vokabel nicht und kann sie mir nicht aus dem Satzzusammenhang schließen, gibt es zwei Möglichkeiten: Ich überlese sie einfach und hebe mir das Nachschlagen für später oder das nächste Mal auf, oder ich unterbreche den Lesefluss und schlage die Vokabel sofort nach. Was man hier tut, ist Ermessenssache. Beides hat seine Vor- und Nachteile.
a) Ich kann wenigstens die ungefähre Bedeutung der Vokabel aus den einzelnen Bedeutungen der Kanji ermitteln. In diesem Fall kann ich weiterlesen, ohne den Lesefluss zu unterbrechen. Wahrscheinlich werde ich mich auch ohne allzugroßen Aufwand wieder an diese Vokabel erinnern um sie später nachschlagen zu können. Das klappt aber aufgrund der Struktur der Zusammensetzungen nicht immer (die Einzel-Bedeutungen der Kanji einer Vokabel müssen nichts mit der Bedeutung der Vokabel, die mit diesen Kanji geschrieben wird, zu tun haben).
b) Ermitteln der Gesamtlesung der Vokabel anhand der Kanji-Kenntnisse
Eigentlich analog zu Punkt 1: Kenne ich die Lesungen, kann ich recht schnell - etwas Erfahrung vorausgesetzt - eine sinnvolle On-/Kun-Kombination zusammenstellen, muss diese aber dann in einem Lexikon nachschlagen. Manchmal benötigt man vielleicht einen oder zwei Anläufe, aber das funktioniert mit der Zeit immer besser.
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- Vokabel nicht bekannt - Bedeutung und Lesungen der betreffenden Kanji nicht bekannt
Hier bleibt einem nichts anders übrig, als die Vokabel zu überlesen oder die Zeichen zunächst in einem Kanji-Lexikon nachzuschlagen, um dann über die Lesungen auf eine entsprechende Kombination zu kommen, die sich in einem Wörterbuch finden lässt. Heutzutage geht dies natürlich einfacher, indem man die Kanji einfach z. B. über IME abzeichnet und in ein Online-Lexikon, wie z. B. wadoku oder wakan eingibt. Trotzdem ist der Aufwand hoch und würde den Lesefluss doch relativ empfindlich unterbrechen - besonders, wenn der Text eigentlich zu schwer ist und der Vorgang oft durchgeführt werden muss. Aber auch in diesem Fall kann man sich entscheiden, die Vokabel zu markieren und später nachzuschlagen, wenn der Gesamtzusammenhang des Satzes oder Abschnittes trotzdem klar ist.
Ich vermute mal, dass diese Vorgänge bei Japanern durchaus ähnlich stattfinden, aber durch ihren von vorne herein größeren Wortschatz zusammen mit ihren Kanji-Kenntnissen, ihrem Sprachgefühl für die eigene Sprache und natürlich der größeren Erfahrung größtenteils auf die richtigen Vokabeln und damit die Bedeutung kommen. Zudem hilft natürlich die bessere Sprachfähigkeit eines Muttersprachlers dabei, den Sinn hinter einem Satz oder Text zu entdecken und allein dadurch schon auf eine bestimmte Vokabel zu schließen.
Sie lernen die Zeichen verteilt über einen langen Zeitraum, passiv wie aktiv, sind ständig mit den Zeichen umgeben - während wir (vielleicht abgesehen von Japanologie-Studenten) nach der Schule oder nach der Arbeit je nach Motivation täglich oder ein paar Mal die Woche einige Zeit mit der Sprache verbringen und uns dann auch noch vorstellen, wir müssten uns allein die über 2.000 Jōyō-Kanji innerhalb kürzester Zeit
reinprügeln. Was sich viele nicht klarmachen ist, dass die Kanji in Japan verschiedene Vokabeln und mitunter auch Bedeutungen umfassen. Das bedeutet, dass man mit einem Kanji neben den On-Lesungen gleich mehrere Vokabeln mit jeweils einem eigenen Bedeutungsumfang lernen muss.
Über 2.000 Kanji zu lernen bedeutet, "nebenbei" ein Vielfaches davon als Vokabeln zu lernen (siehe JLPT N1).
Zusammenfassend muss man einfach sagen,
dass es für Nicht-Japaner ein ungeheurer Aufwand ist, im Ausland Japanisch zu lernen (Ausnahmen wie der AJATT-Typ ausgenommen
). Ich merke schon Veränderungen, wenn ich mehrere Wochen in Japan bin, dort ständig von der japanischen Schrift umgeben bin und viel öfter Japanisch lese, als ich dies in Deutschland tue - ich habe das Gefühl, in diesen Zeiten unheimlich viel zu lernen. Das gleiche trifft auf das Sprechen zu. Es gibt mehrere Faktoren, die einen dazu befähigen, japanische Texte flüssig zu lesen, neben Kanji-Kenntnissen sollte man ständig seinen Wortschatz am Besten anhand von Texten (nicht durch ausschließliches Vokabelpauken) erweitern und möglichst viel lesen. Um japanische Texte auch richtig verstehen zu können muss man sich zusätzlich noch mit grammatikalischen Themen auseinandersetzen. Aber auch dabei gilt: Je mehr man liest und hört, je öfter man einer Form begegnet, desto vertrauter wird sie einem und desto schneller wird man sie erkennen.
In Deutschland lesen wir vornehmlich lateinische Buchstaben und haben oft nur wenig Gelegenheit, Japanisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Also muss man etwas mehr Geduld mitbringen und evtl. auch nach anderen Methoden suchen, wie man z. B. Kanji lernt und behält. Außerdem ist es hilfreich, sich auf die Punkte zu konzentrieren, die man wirklich lernen möchte. Wer z. B. nicht schreiben können will oder muss, weil er vielleicht Japanisch nur als Hobby lernt, kann diese Fähigkeit getrost vernachlässigen. Gleichzeitig muss man aber auch beachten, dass jeder anders ist: Während für den einen Hilfsmittel wie Kanji-ABC oder Heisig hilfreich und notwendig sind, mögen diese für einen anderen eher ein Klotz am Bein sein, weil er lieber viel liest und sich mit seinen Lexika durch Texte kämpft, auch wenn sie für ihn noch schwer zu lesen sind. Beides hat etwas für sich und ich vermute, beides kann einen weiterbringen.
Ich will mit dem Text niemanden abschrecken - im Gegenteil: In einer Lernkrise sollte man sich einfach klar machen, was man bis jetzt erreicht hat (meist mehr, als jemand, der "nur" Spanisch lernt), dass es wirklich nicht einfach ist und man stolz auf das Erreichte sein kann. Und obwohl es nicht einfach ist, ist es schaffbar - umso mehr, wenn es Spaß macht. Also einfach weitermachen und hin und wieder mal innhalten und sich an dem erfreuen, was man schon gelernt hat