Zitat:Zu einer Objektivierung könnten dann ua linguistische Untersuchungen sowie Sprachstatistiken beitragen
Ich habe mir zumindest mal Hofstedes Individualismusindizes für die USA, Deutschland, Ungarn, Japan und Südkorea herausgesucht:
USA: 91
D: 68
H: 51
J: 41
ROK: 18
Weltdurchschnitt: 43
Je geringer der Wert (0<=IDV<=100), desto stärker neigen die Individuen der Kultur zum Kollektivismus. Das heißt, daß die Verbindungen und Bindungen zwischen den Inidviduen wichtig sind und daß Bezugsgruppen, wie z.B. Familie eine große Rolle spielen.
Mit den Daten habe ich allerdings ein gewisses Problem. Der Grundstock wurde Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre bei Untersuchung von IBM-Mitarbeitern weltweit gewonnen. Seither wurden die Daten kontinuierlich von anderen Forschern erweitert. Es ist zwar recht nett, wenn wir einen riesigen Datensatz haben, man kann auch argumentieren, daß er durch seine Größe Ausreisser gut abfedert, aber wenn man den Datensatz nach fünf Kategorien und über fünzig Ländern aufspaltet, ist die Zellgröße doch wieder kleiner. Außerdem fehlt die Angabe der Grundgesamtheit. Zwei große Probleme sehe ich zumindest: Erstens sind die Grundlage IBM-Mitarbeiter. Signifikante Ergebnisse bekomme ich also für IBM-Mitarbeiter, nicht unbedingt für die Angehörigen der ganzen Kultur. Zweitens ist die Grundlage eben über 30 Jahre alt und wird mit Daten gemischt, von denen die jüngsten aus dem Jahre 2001 sind. Ich fürchte, daß sich das negativ auf die Vergleichbarkeit der Zellen untereinander auswirkt.
Die Daten stützen jedenfalls unsere bisherigen Überlegung größtenteils (wenn ich auch den extrem niedrigen Wert für Südkorea sehr merkwürdig finde), zeigen aber auch auf, daß Sprache allein nicht für den Kollektivismus einer Gesellschaft verantwortlich sind. Vergleichen wir mal einige englischsprachige Länder:
USA: 91
UK: 85
AUS: 85
NZ: 78
IRL: 67
Eine andere Sache, die Du, adv, angesprochen hast, ist die Gesellschaftsstruktur.
Zitat: In der historischen Dimension: stark hierarchisch aufgebautes Gesellschaftssystem mit Unterordnung des Einzelnen unter die Höhergestellten
Eine sehr interessante und nachvollziehbare Idee. Das Klassensystem wird von einigen Autoren erwähnt, wenn sie auf die Entwicklung von Keigo hinauswollen. Allerdings hatten wir auch in Europa lange Zeit starre Ständegesellschaften, ohne daß sich eine dermaßen elaborierte Höflichkeitssprache entwickelt hätte.
Dazu habe ich allerdings mal die interessante Idee gelesen (leider fällt mir der Autor nicht mehr ein), das japanische Keigo sei eine Art Brücke zwischen den Klassen gewesen. Keigo ermöglichte Gespräche über Klassengrenzen hinweg nach festen Regeln.
Hat jemand von uns vielleicht Kenntnisse zu indischen Sprachen? Spiegelt (oder spiegelte) sich in ihnen das Kastensystem wieder?
Über die Entwicklung von speziellen Höflichkeitssprachen hat sich Wilhelm von Humboldt in seinen Kawiwerk Gedanken gemacht (wobei er einen Gedanken aus seiner Mexicanischen Grammatik wieder aufgriff): Kawi ist das Altjavanische. Humboldt untersuchte diese Sprache und stellte von den Vokablen her Verwandtschaft zum Sanskrit her, von der Grammatik aber zu anderen Sprachen der Gegend. Er postulierte eine Sprachfamilie, die wir heute als die austronesische kennen. Kawi hat jedenfalls eine "vornehme Sprache" (basa krama ode basa dhalem). In einer elaborierten Fußnote macht er sich Gedanken über das Entstehen verschiedener Sprecharten. Er sieht hier Ähnlichkeiten zu Dialekten. Diese entstünden durch unterschiedliche Siedlungsräume, aus Konventionen hingegen entstünden Sprecharten für unterschiedliche Klassen, für entweder innerhalb der Klassen oder zwischen ihnen.
Sprechstile, die man innerhalb einer bestimmten Klasse anwendet, entstehen aus Unterschieden in der geistigen Kultur. Oft entwickeln sie sich gleichzeitg mit Dialekten. In seiner Mexicanischen Grammatik (in der er eine Sprache behandelt, die wir heute Nahuatl nennen) nennt er übrignes ein Beispiel, bei dem eine ehrenvolle Anrede in einer bestimmten Region in einer anderen als vertrauliche Selbstbezeichnung verwendet wird. Mir fällt in diesem Zusammenhang auch die höfische Kultur des französischen Absolutismuses ein, in der die Adligen einen ganz eigenen, anspielungsreichen, schnörkligen Sprachstil entwickelt hatten, den kein Außenstehender verstehen konnte. Wahrscheinlich dient der Sprachstil also auch der Abgrenzung, der Identitätsbildung als Gruppe.
Sprechstile für Angehöriger unterschiedlicher Gruppen entstehen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und können Respekt und Unterordnung ausdrücken. Oft betrifft das nur einzelne Worte, Redensarten oder Fügungen. Es handelt sich um eine Gewohnheit.
Dieser Sprechstil äußert sich vor allem un den Teilen, die die Person betreffen. Eine typische Erscheinung ist, daß Pronomen durch Substantive ersetzt werden.
(Humboldt, Wilhelm von: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java. Erster Band. Berlin 1836. S. 50f. Es gibt vom Kawiwerk mindestens drei z.T. sehr unterschiedliche Ausgaben. Kann sein, daß das Kapitel nicht in allen Ausgaben vorhanden ist.)
Ich habe nun in ein Lexikon zu Kawi hineingeblättert, mir die "Pronomen" der Höflichkeitssprache herausgesucht und sie nachgeschlagen. Und tatsächlich, sie haben eigenständige Bedeutungen, nämliche "Herrscher", "Diener", "dieser" usw. Denken wir nun an Datenshis Bemerkungen, daß es den Leuten recht schnurz ist, wie man ihre Wörter nun nennt, haben wir etwas, das dem Japanischen sehr ähnelt, nämlich Rollenbezeichnungen.
Es gibt ja doch einige Parallen zum Japanischen: kimi (君), der Herrscher, anata (貴方), die ehrenhafte Person oder auch das Verwendung von Richtungs- und Ortsangaben, kochira, sochira, omae (こちら, そちら, お前).
advs Gedanke, daß die Gesellschaftsstruktur eine Rolle spielt scheint also plausibel. Die Entwicklung von Rollenbeschreibungen passt sehr gut in dieses Schema. Es stellt sich nur die Frage, ob auch eine direkte Verbindung zum Individualismus bzw. Kollektivismus besteht.
Verändert die Existenz der Wörter "ich", "du", "er/sie/es" wirklich die Wahrnehmung der Wirklichkeit so stark?
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Edit: diverse Tippfehler korigiert.