(03.03.15 09:29)Hellstorm schrieb: Also eigentlich finde ich deine Beiträge ja immer recht hochwertig und gut, aber hier muss ich mal einhaken:
1. Die chinesische Schrift ist keine logographische Schrift. Das ist nur eine komplett umständliche phonetische Schrift. Lies dir mal The Ideographic Myth durch.
Vielen Dank für den interessanten Literaturhinweis.
Vielleicht die beabischtigte Hauptthese zuerst, damit meine Stoßrichtung klarer wird:
Mein Eindruck, auch durch Gespräche mit einem Chinesen, der einige Monate am gleichen Institut beschäftigt war, ist, dass die Mängel oder Nachteile des chinesischen Schriftsystems, wie sie in der Kritik aus dem Westen, aber auch bei begonnenen Schriftreforminitiativen im Land, formuliert wurden, in einigen Punkten durch die elektronische Text- und Datenverarbeitung gemildert oder teilweise kompensiert werden konnten. Wenn dies richtig wäre, dann würden die neuen Textspeicher- und präsentationsformen ganz besonders für China Vorteile mit sich bringen (auch für unsere Schrift: ich habe China nicht angeführt um zu behaupten, dass bei uns keine Vorteile daraus erwachsen).
Zu den Details, bei denen ich mich vertrauensvoll auf Bodmer verlassen habe:
- 1. Unter logographischer verstehe ich nicht ideographische oder piktographische Schrift. Korrigiere mich bitte, wenn ich da falsch liege. Nach dem mir bekannten Sprachgebrauch wird die Han-Schrift (und werden so auch die Kanji im japanischen oder die Hanja im koreanischen Gebrauch) als logopraphische Schrift bezeichnet. Die einzelnen logographischen Zeichen der Logogramme sind auf der einen Seite keine Grapheme, die das Phonemrepertoir der Sprache repreäsentieren. Auf der anderen Seite repräsentieren die logographischen Zeichen aber auch meist keinen vollständigen Begriff wie bei den ideographischen Schriften, sondern setzen diesen oft als Morpheme erst zusammen. Mir fiele außer der (ursprünglich) chinesischen keine andere logographische Schrift ein, die noch heute gebräuchlich wäre. Ob es nun z.B. angemessen ist, die frühsumerische und die chinesische Schrift als logographische und piktographische Schriften zu vergleichen, wie ich es aus Publikationen der Oxford University zu erinnern meine, kann ich nicht beurteilen. Aber allgemein dachte ich, die Einstufung der chinesichen Schrift als logographische Schrift sei kein Streitthema. Dass die chinesische Schrift eine phonetische Schrift sei, habe ich so noch nicht gelesen. Gerade der Umstand, dass die chinesische Schrift es den unterschiedlichen Sprachen in China ermöglicht, ein und denselben Text ohne Übersetzung in die jeweils andere Sprache zu lesen, soll ja als gewichtiges Argument für die Beibehaltung dieser Schrift herangeführt worden sein, weil so der Zusammenhalt ("Einheit" halte ich für einen irreführenden Begriff) der chinesischen Nation (auch hier vielleicht besser: Kultur) über die zurückliegenden wie für die vor uns liegenden Jahrhunderte ermöglicht werde. Ich zitiere mal Bodmer (5. Aufl., S. 251): "Bis jetzt besitzt China noch keine gemeinsam gesprochene Sprache, die jedermann versteht. Die einzige gemeinsame Sprache des Nordens und des Südens ist die visuelle Sprache, d.h. die Schrift, in der die Pekinger und die Kantonesen, die sie gelernt haben, die gleichen Bücher und Zeitungen lesen können. Dies ist möglich, da die geschriebene Sprache nicht auf den Lauten beruht, die beim Lautlesen geäußert werden. Die bisherige Schrift, so lautet das Argument, stellt deshalb das stärkste Band der chinesischen Einheit dar. Würde China sie durch die Romanisierte Nationalschrift ersetzen, zerfiele die Nation in ihre Teile, denn sie beruht auf einer bestimmten Rederform, nämlich der von Peking, die von ungefähr einem Viertel von Chinas 600 Millionen nicht verstanden wird." Nun ist es lange her, dass die Bevölkerung Chinas noch aus 600 Millionen Menschen bestand, Bodmer ist auch nicht der Maßstab, aber ich kann an seinen Äußerungen zum Charakter der Schrift nichts Veraltetes finden.
Ich verstehe John DeFrancis in dem von dir zitierten Artikel eher so, dass er auf die irrtümliche Vorstellung hinweisen will, die chinesischen Schriftzeichen würden sprachphysiologisch als optische Signale direkt und unter Umgehung der Sprache in kommunikativ wirksames Bewusstsein transferiert. Er betont, dass im einzelnen "Kopf" (also in der Sprachphysiologie) der Umweg über die (jeweilige) Sprache stattfindet, die Sprache also nicht in einer Art Bypass umgangen werden kann. Aber das hat m.E. nichts damit zu tun, dass die chinesischen logographischen Zeichen keine Grapheme repräsentieren, sondern Morpheme zur Begriffsbildung sind. Was mich am meisten an dem Artikel erstaunt hat, ist nicht seine Beweisführung, sondern seine Grundthese, dass die Vorstellung existiert, die chinesische Schrift mache Sprache umgehbar. Mir ist eine solche Vorstellung gar nicht bekannt gewesen. Darin liegt für mich eher die Neuigkeit.
(03.03.15 09:29)Hellstorm schrieb: 2. Was digitale Textformen mit Nachschlagen zu tun haben will, verstehe ich nicht ganz, bzw. was der Unterschied zum Deutschen sein soll. Auch im Deutschen ist es ungemein praktischer, ein Wort in einem langen Text per Volltextsuche suchen zu können. Ich sehe da wirklich absolut keine Differenz zwischen Chinesisch und Deutsch. Und wenn du von Wörterbüchern redest: Chinesische Wörterbücher sind sortiert. Üblicherweise nach der Aussprache des ersten Zeichens, aber es gibt auch andere Reihenfolgen (Radikal oder auch einfach nach Wörtern). Das Problem ergibt sich doch nur bei unbekannten Zeichen, aber selbst die findet man normalerweise problemlos (es gibt ja jeweils den Radikal-Index oder auch den sehr hilfreichen 難字-Index).
Ich bin beim Japanischlernen noch am Anfang und mit den Kanji nicht vertraut. Bisher hat sich bei mir der Eindruck ergeben, dass das Nachschlagesystem eine große Hürde darstellt, die in logographischen Zeichen festgehaltene Information zugreifbar zu machen. Da ist zum Einen der Inititialaufwand und das Training, die notwendig sind, um das gesuchte Element nachzuschlagen. Und auch im Finalstadium verspricht selbst Hadamitzky nicht, die gleiche Geschwindigkeit wie in unseren alpabetischen Systemen zu ermöglichen.
"Unbekannte Zeichen" sind ja erst einmal grundsätzlich gleich Tausende vorhanden, selbst für Muttersprachler. Für Anfänger scheidet das Radikalsuchsystem auch erst einmal aus, da sie die Radikale noch gar nicht kennen und selbst das Erlernen von nur Hunderten statt Tausenden Elementen eine Hürde darstellt, die mit unserem Alphabet nicht vergleichbar ist. Über die Strichzahl kann man sich früher, aber nicht schneller behelfen. Über die digitalen Techniken stehen aber jetzt dich eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, Texte ohne zeitraubende Nachschlagbarbeit zu durchsuchen (das gilt natürlich auch für unsere Schriftsysteme, doch waren diese doch schon immer gut nachschlagbar). Da mir aber die praktische Erfahrung selbst fehlt, werde zu diesem Thema keine weiteren Behauptungen aufstellen.
(03.03.15 09:29)Hellstorm schrieb: 3. Der Telegraphencode ist auch nur eine weitere Zeichenkodierung, die letzten Endes auch nur auf den Morse-Code aufgesetzt wurde. Zeichenkodierungen sind die Grundlage von moderner Informationsübertragung, von daher sehe keinen großen Unterschied. Klar, man hat diesen Zwischenschritt Text-in-Telegraphencode und Telegraphencode-in-Text, der noch vor dem Morsen geschieht, aber das ist auch kein großer Unterschied gegenüber dem Morsen an sich: Da muss der Text ja auch erst in Morsecode umgewandelt werden. Und heute ist Chinesisch genau wie Deutsch auch in den Zeichenkodierungen absolut gleich kodiert: Einfach nur ein Zahlenwert.
Die Argumentation Bodmers, die ich angeführt habe, sollte die Entscheidung der chinesischen Regierung vom 9. Februar 1956 unterstützen, das lateinische Alphabet zu übernehmen. Die Betonung bei den Schwierigkeiten lag auf der Vierstelligkeit des Zahlencodes, der für ein chinesisches Zeichen erforderlich ist. Ohne eine technische (z.B. elektronische Routine) dürfte eine solche Encodierung kaum ohne entsprechenden Zeitverlust möglich gewesen sein. Umgekehrt formuliert ist in der elektronischen Datenwelt dieser Nachteil praktisch aufgehoben. Darum ging es mir ja nur: anhand eines Beispiels, das die für uns geltenden Vorteile moderner Informationsübertragung noch übersteigt, zu veranschaulichen, dass ich nicht der Meinung bin, dass früher alles besser war - wonach du mich ja gefragt hast.
(03.03.15 09:29)Hellstorm schrieb: 4. [...] Die Rückständigkeit von chinesischem Druck würde ich wohl eher auf die allgemeine wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes zurückführen. [...]
Mag sein. Bodmer hat sie explizit auf die chinesische Schrift zurückgeführt.
(03.03.15 09:29)Hellstorm schrieb: 5. Heutige Technik erleichtert nicht nur den Austausch mit China, sondern auch mit Frankreich oder Bayern. Das ist doch völlig klar. Was das speziell mit China zu tun haben sollte, weiß ich nicht. China ist wohl eher an unsere Kultur herangerückt indem es sich dem Kapitalismus verschrieben hat, oder auch schon damals in der Xinhai-Revolution. Digitale Kommunikation hat damit doch nichts zu tun: Chinesen schreiben sich größtenteils auch nur untereinander, oder wann bekommt der normale Deutsche mal eine E-Mail auf Chinesisch?
Die Hürden für eine Kommunikation mit Frankreich (oder Bayern) waren vorher schon denkbar gering. Die mit China dagegen nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aufgrund der Sprach- und Schriftbarriere enorm. Chinesische Bücher standen in den wenigsten Bibliotheken im Westen. Eine Anschaffung lohnte sich nicht. Heute - in digitaler Zeit - sind Verfügbarkeit und Zugriff durch Internet und digitale Textform aber deutlich erleichtert. Inhalte können mit technischen Methoden nach Keywords durchsucht werden. Der Zeichensatz spielt kaum eine Rolle. Ich kann mich erinnern, dass Archäologen in den 1980er oder 1990er Jahren beklagten, dass in China bedeutende Funde und Erkenntnisse gemacht wurden, dieser aber nur schwer in die westlichen wissenschaftlichen Publikationen Eingang fänden, weil die Chinesen oft nur in chinesischer Sprache publizierten und ihre Periodika schwer verfügbar waren. Du magst recht haben, dass die politischen Änderungen weitaus wichtiger für den angestiegenen Austausch sind. Aber sowohl das Anwachsen der Verfügbarkeit als auch der inhaltlichen Durchsuchbarkeit des Informationsmaterials durch die technischen Fortentwicklung ist für den chinesischen Sprach- und Schriftraum besonders hoch ausgefallen. Wenn ich richtig informiert bin. Auch das zielte in Richtung: nicht alles war früher besser.