"In vielen Städten hat es auch an diesem Wochenende Proteste gegen die angeblich zu strikten Corona-Auflagen gegeben. Dagegen ist nichts zu sagen. In einer offenen Gesellschaft ist es nicht nur hinzunehmen, sondern gerade erwünscht, dass es eine lebhafte und kontroverse öffentliche Debatte über das Regierungshandeln gibt. Demonstrationen gehören dazu. Ihr Stattfinden ist der schlagende Beweis dafür, dass auch in Corona-Zeiten die Grundrechte eben nicht außer Kraft gesetzt sind, auch wenn manche Podiumsredner diesen Eindruck erwecken wollen.
Dass diese Zusammenkünfte dennoch einen verstörenden Eindruck hinterlassen, liegt also nicht an ihrem Thema. Es ist diese gefährliche Mischung aus Verschwörungstheoretikern, Populisten, Rechtsradikalen und der ganzen farbenfrohen Palette der Paranoia, die sich dort zum Protest einfindet und offenbar sogar manch ehrlich Besorgten keineswegs davon abschreckt, die Staffage für deren weinerlich zur Schau getragene Gedankenarmut abzugeben.
Hier sei die gesellschaftliche Mitte versammelt, hört man oft, die schweigende Mehrheit, der einfache Bürger, der seine Rechte wahrnimmt. Dem ist nicht so. Und es ist Aufgabe der wirklichen gesellschaftlichen Mitte, solch anmaßenden Behauptungen entgegenzutreten. Es ist keineswegs so, dass der bisherige Corona-Kurs gegen den Willen der Bevölkerung in einem autoritären putschartigen Überwältigungsversuch durchgepaukt worden wäre.
Alle Maßnahmen beruhen auf intensiven und oft strittigen Beratungen demokratisch legitimierter Funktionsträger, die sich für ihre Entschlüsse in demokratischen Wahlen zu verantworten haben werden. Und die unterliegenden Gesetze sind von Parlamentariern verabschiedet worden. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung diese Maßnahmen im Prinzip billigt. Demokratischen Streit gibt es um die Dauer der Maßnahmen. Die Demonstranten haben jedes Recht, gegen Einschränkungen während der Pandemie Stellung zu beziehen. Aber es ist eine Anmaßung, sich als unterdrückte Mehrheit auszugeben. Es ist gefährlich, ihnen das durchgehen zu lassen. Jeder, der an diesen Demonstrationen teilnimmt, muss sich fragen, mit wem er da gemeinsame Sache macht.
Wie aber ist der falsche Eindruck auf Dauer zu verhindern, dass hier eine Art gerechter Volkszorn hochkoche? Gerade weil sich hier etwas hochschaukelt, dürfen sich diejenigen, die sich selbst als bürgerlich empfinden, nicht zu fein sein, mutig entgegenzutreten. Verschwörungstheoretikern zu widersprechen ist eine Bürgerpflicht. Auf eine angemessene Sprache zu achten, ist genauso wichtig. Nie hat es einen „Lockdown“ gegeben. Solche Achtlosigkeiten im Sprachgebrauch dürfen sich nicht einschleichen, denn das ist der Nährboden für die Konstrukte der Wirrköpfe. Und Politiker müssen wissen, dass die Art ihrer Auftritte und Debatten Vorbildcharakter hat. Wer den Eindruck erweckt, längst mögliche Lockerungen würden den Bürgern mutwillig vorenthalten, leistet der Paranoia Vorschub. Wer ohne Maske und Abstand an Demos teilnimmt, macht den Schutz vor dem Virus lächerlich. Warum fällt einem da die FDP ein?
Vor allem aber darf sich die wache und demokratisch gesinnte Mehrheit der Bevölkerung nicht beirren lassen. Wir, die wir den demokratischen Meinungsstreit hochhalten, Sachdebatten führen und Wissenschaftler zu Wort kommen lassen, deren Meinung berücksichtigen, sind die Mehrheit. Wir, die daran denken, dass das Virus eine Gefahr für viele verletzliche Gruppen darstellt, die unterstellen, dass die handelnden Politiker das Gemeinwohl im Auge haben, sind die Mehrheit. Wir sind das Volk."
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhal...1cbe0.html
Leitartikel aus der heutigen StZ. Entspricht vollumfänglich meiner Meinung dazu und es ist mir wichtig, dieses als Gegengewicht zu den hirnbefreiten Ansichten, die oben im Thread anklingen, zu posten. Ja ja, alles nur gleichgeschaltete Lügenpresse, ich weiß schon, dass etwas in der Richtung eingeworfen werden wird. Weil es aber genau meiner so gar nicht gleichgeschalteten Meinung zum Themenkomplex entspricht, werfe ich aber gleich noch einen anderen Kommentar aus derselben Quelle hinterher:
"Gibt es einen ganz großen Plan?
Vor allem im Netz kursieren derzeit viele Mythen rund um das neuartige Coronavirus. Warum abstruse Verschwörungstheorien so populär sind – und warum vor allem Männer daran glauben.
Ist die Corona-Pandemie nur eine Erfindung? Manche glauben das wirklich.
Stuttgart - Noch nie wussten Wissenschaftler aller Disziplinen so viel über die Welt. Doch das hat bislang nicht zur Lösung aller großen Menschheitsprobleme geführt. Im Gegenteil, die Erkenntnis, dass letztlich alles mit allem zusammenhängt, macht das Leben außerordentlich kompliziert. So kompliziert, dass viele Leute sich nichts mehr wünschen als eine einfache Erklärung für all diese rätselhaften Dinge, die da draußen in der Welt passieren – und die sich dank digitaler Medien in Echtzeit auf dem ganzen Globus verfolgen lassen.
Bei vielen Menschen führe das dazu, dass sie die verwirrende Vielfalt von Informationen in Erklärungsmuster einordnen, die ihnen bereits vertraut sind, erläutert die Münchener Historikerin Hedwig Richter. Wer schon immer davon überzeugt war, dass der Kapitalismus, eine jüdische Weltverschwörung, Migranten oder als Politiker getarnte Außerirdische an allem schuld sind, für den ist sonnenklar, dass diese Gruppen auch verantwortlich für die Corona-Pandemie sein müssen.
Strebt Bill Gates die Weltherrschaft an?
Gerade in Krisensituationen steigt der Bedarf an einfachen Erklärungen. Und die Verschwörungsanbieter liefern zuverlässig. Da ist für jeden was dabei. Wurde das Coronavirus von der Pharmaindustrie entwickelt, um Milliarden mit Impfstoffen zu verdienen? Steckt Bill Gates dahinter, dessen Stiftung die Impfstoffentwicklung mitfinanziert – mit dem Ziel, uns allen im Zuge von Zwangsimpfungen winzige Mikrochips zu injizieren, die ihm endlich die totale Kontrolle über die Menschheit ermöglichen? Immerhin hat der Microsoft-Gründer schon fast die ganze Welt mit seinem hochinfektiösen Windows-Betriebssystem verseucht. Oder ist die Corona-Pandemie am Ende nur eine Erfindung „des Systems“, das nun endlich einen Hebel gefunden hat, um seine Untergebenen in heimischer Isolation zu knechten und die Bürgerrechte dauerhaft zu beschneiden?
Auch eine ganze Reihe von B- und C-Promis sieht in den Corona-bedingten Einschränkungen nur einen weiteren Beleg dafür, dass dunkle Mächte an einer neuen Weltordnung basteln. Der Veggie-Kochstar Attila Hildmann, der vor einigen Jahren mit den gar nicht so veganen Ledersitzen in seinem Porsche einen Shitstorm ausgelöst hatte, hält es deshalb sogar für angebracht, bewaffneten Widerstand zu leisten. Hoffen wir mal, dass der Hardcore-Veganer dabei nur an Salatgurken als Schlagstöcke und Paprikaschoten als Wurfgeschosse gedacht hat.
Wer selber keinen Plan hat, sucht ihn wo anders
Männer sind Studien zufolge übrigens anfälliger für Verschwörungstheorien als Frauen. Einer gängigen Erklärung zufolge sind die Herren der Schöpfung durch die Erosion ihres klassischen Rollenbildes ohnehin schon ziemlich verunsichert. Deshalb kämen sie generell nicht so gut mit unklaren Situationen zurecht. Der Grad der Verwirrung ist natürlich nicht bei jedem gleich. Aber insgesamt zeichnet sich das folgende Muster ab: Vor allem diejenigen, die keinen Plan haben, glauben daran, dass zumindest andere einen solchen haben – und zwar nicht irgendeinen Plan, sondern einen ganz, ganz großen, der sich aber trotzdem in höchstens drei Sätzen erklären lässt.
Haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum der Nachschub an abstrusen Verschwörungstheorien nie abreißt? Hier kommt die Antwort: Sie werden von mittelmäßig intelligenten Algorithmen immer wieder neu aus alten und neuen Wahnvorstellungen zusammengebastelt und im Netz verbreitet. Die entsprechenden Programme laufen – selbstredend – auf Windows-Rechnern. Und deshalb ist Bill Gates eben doch an allem schuld. Aber das darf nie jemand erfahren."
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhal...5a7cf.html