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"tokyo" von Mo Hayder
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chiisai hakuchoo


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Beitrag #1
"tokyo" von Mo Hayder
"tokyo" fiel mir in einer englischen Buchhandlung zufällig in die Hände - zugegeben nicht zuletzt aufgrund des Titels - und ich finde, es war ein echter Glücksgriff.

Erzählt wird die Story von Grey - ein seltsamer Name für eine seltsame Person - aber es erinnert mehr an einen mündlichen Bericht. Sie erzählt von ihrer jahrelangen Suche nach einem Film, der 1937 in Nanking/China aufgenommen wurde. Als Kind hat sie über das dortige Massaker gelesen, im speziellen über einen Vorfall, der so schockierend ist, daß ihr niemand glaubt. Das Buch verschwindet spurlos, Grey macht ihre offenbar noch seltsamere Mutter dafür verantwortlich und sich selbst auf eine Suche, die über zehn Jahre dauern soll.

Grey landet schließlich in Tokyo auf der Suche nach Shi Chongming, in dessen Besitz der Film sein soll. Aber er ist alles andere als kooperativ, bis er seinerseits eine Möglichkeit findet, Grey für seine eigene Suche einzusetzen, eine Suche, die sein eigenes Leben seit mehr als fünfzig Jahren bestimmt. Damit haben sich zwei Menschen gefunden, deren Seelen bis hin zum Wahnsinn verfolgt werden, die am Ende des Buches beide ihren Frieden finden, den sie ohne den anderen niemals gefunden hätten.

Grey und Shi Chongming haben ihre Leichen im Keller, und was das Buch so spannend macht, ist die Erzählweise. Grey berichtet immer wieder aus ihrer Vergangenheit, aber sie scheint vorauszusetzen, daß der Leser, der hier schnell zum Zuhörer wird, über alles Bescheid weiß. Sie berichtet über ein Mädchen, mit dem sie im Krankenhaus war, und der Leser/Zuhörer fragt sich: "Was für ein Krankenhaus? Eine psychiatrische Klinik? Warum?" Sie berichten von den Jungs im Van, und der Leser/Zuhörer weiß nur, daß es sich dabei um eine sehr wichtige Begebenheit handelt, die für den Fortlauf der Story entscheidend ist und die an Greys psychischer Verfassung zweifeln läßt.

In guter alter Stephen-King-Manier stoppt Mo Hayder an der spannendsten Stelle und fährt mit einem Auszug aus Shi Chongmings nicht weniger spannendem Tagebuch fort. Dieses Tagebuch hat er 1937 geschrieben und holt es nach dem Besuch von Grey wieder hervor, etwas was er nie wieder tun wollte. Selbstverständlich wird auch hier nur angedeutet, aber nichts offenbart. Nach und nach entpuppt sich das Tagebuch als erschütternder Bericht über das, was Menschen im Krieg einander antun. Viele Geschehnisse kannte ich aus Berichten aus dem ehemaligen Jugoslawien und Vietnam. Glücklicherweise gelingt Mo Hayder hier die Gratwanderung zwischen der realistischen Darstellung dessen wozu Menschen fähig sind und der Verdammung eines ganzen Volkes. Letzteres tut sie definitiv nicht, denn sie bleibt in ihrem Bericht objektiv - obwohl er aus der Sicht eines der Leidtragenden geschrieben ist - nicht zuletzt mithilfe eines Soldaten, der sich weigert, Zivilisten zu erschießen.

Grey bezieht ein Zimmer in einem heruntergekommenen Haus mit einem Zwillingspärchen aus Russland und einem ziemlich seltsamen Amerikaner - wie seltsam erfährt der Leser/Zuhörer gleichzeitig mit ihr - und nimmt einen Job in einem Nachtclub an, in dem auch die beiden Russinnen und der Amerikaner arbeiten. Hier begegnet sie dem alten Yakuza, den Shi Chongming seit 50 Jahren sucht.

Der Leser/Zuhörer fühlt mit jeder Person mit, besonders natürlich mit Grey, und während des Showdown am Ende fällt es schwer, das Buch wegzulegen. Die Handlung und die Erzählweise bauen eine unglaubliche Spannung auf, und "tokyo" zählt meiner Meinung nach zu den besten Büchern, die ich jemals gelesen habe.

"A real page-tunrer, full of suspense, with a terryfying, gritty edge that turns the blood cold." sagt Minette Walters, und ich kann ihr nur Recht geben.

Mo Hayder weiß, wovon sie spricht, denn sie hat nicht nur als Englischlehrerin in Asien gearbeitet, sondern außerdem als Kellnerin, Security Guard, Filmemacherin und als Hostess in einem Club in Tokyo. Ihr Wissen und ihre Beobachtungsgabe machen dieses Buch zu einer großartigen Lektüre. Ihre Erzählweise sorgt dafür, daß dieses Buch immer wieder spannend ist, auch wenn man den Ausgang bereits kennt. Für mich macht gerade das einen zusätzlichen Reiz aus, weil ich ein Buch ganz anders lese, wenn ich das Ende nach all den Wendungen und Drehungen schon kenne.

Leichen im Keller scheinen eine Spezialität von Mo Hayder zu sein, und deshalb wird "tokyo" sicher nicht der letzte Roman gewesen sein, den ich von ihr lese.

Eine fremde Sprache zu beherrschen knüpft ein Band zwischen den Menschen, das ohne dieses Wissen niemals existieren könnte.
www.edition-ginga.de
28.08.04 11:28
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