Beitrag #1
Gedichtpflicht
Als in der Showa-Jidai die japanische Industrie Weltrang erreichte, haben viele von uns jungen Ausländern Englisch-Unterricht erteilt, jeder konnte davon berichten, wie die japanischen Schüler so absolut ausdrucksunfähig oder -unwillig waren. Wir haben oft über dieses Phänomen diskutiert, die meisten waren der Ansicht, dieses Phänomen sei nicht angeboren, sondern sozialisationsbedingt, müsse aber überwunden werden, denn Japan hätte die jetzige Entwicklungshöhe im wesentlichen durch Nachahmung errungen, doch zum Halten einer Führungsposition genügt das nicht, es müsse kreatives Denken her.
Dieser Diskussionsstand diffundierte in das japanische Kultusministerium und schlug sich in Bildungsplänen nieder, die schon drei Jahrzehnte später die Schulen erfaßten. (Da ich einige japanische Kinder erziehe/erzogen habe, konnte ich die Entwicklung beobachten).
Mein kleinstes Kind ist jetzt in der 4. Klasse Grundschule und hat zwei Schuljahre lang jede Woche eine Seite Tagebuch schreiben müssen. Das war sehr schwierig, denn er wußte nie, was er erzählen soll, um die Zeilen zu füllen. Schließlich bin ich dazu übergegangen, für ihn immer ein Sachthema aufzubereiten, eines war z.B. der Rauschebart Itagaki auf dem 100-En-Schein.
Mit Übertritt in die 4. Klasse entfiel das Tagebuch, ich hatte mich schon gefreut, da schlug die nächste Kreativitätsgranate aus dem Kultusministerium ein: Jede Woche ein Gedicht - freie Themenwahl! Boschemoi, mein Bub ist ein Japaner und kein Poet! Ich bin ja schon gottfroh, daß er wenigstens über witziges lachen kann, wenigstens so deutsch ist er mal. Aber kreative Poesie? Vielleicht 早く詩を出せ柿の花 出さんと鋏でチョン切るぞ wär mein Vorschlag.
Die Woche hat er es noch nicht geschafft, aber hat noch Zeit bis morgen abend.
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