Beitrag #2
RE: Die unerbittliche Vergessenskurve oder auch: das "ganz oder gar nicht" - Problem
Ich bin kein Gehirnforscher, also kann ich nur von meinen eigenen Erfahrungen berichten und Vermutungen äußern.
Wenn du auf deiner Gitarre eine Tonleiter an einem Tag 2 Stunden lang rauf und runter spielst und am nächsten Tag z. B. eine andere Tonleiter, ein Arpeggio, Tremolo oder ein Stück, in dem einige Läufe vorkommen, dann sind bestimmte physische Bewegungsabläufe und Vorgänge im Gehirn ähnlich oder sogar gleich - und das hat auch einen Effekt auf andere Fähigkeiten; du bleibst sozusagen "im Training".
Übst du hingegen am nächsten Tag gar nicht, dann baust du ab und je länger du nicht übst, desto mehr. Das wird dir vielleicht nicht gleich nach einem Tag bewusst (das hängt natürlich auch vom "Trainingszustand" ab), aber du fängst mit jedem Tag Pause mehr wieder ein Stückchen weiter von unten an.
Ähnlich sehe ich es mit dem Kanji-/Vokabel- und Phrasen-Lernen: Am Besten behälst du natürlich die Inhalte, die dich aus welchem Grund auch immer ansprechen, dich faszinieren oder interessieren. Als Nächstes kommen die, die du oft verwendest oder oft liest oder hörst - und zwar auch hier: Je öfter, desto besser kannst du sie dir merken; je seltener, desto schneller vergisst du sie auch wieder.
Normalerweise kann man gar nicht sämtliche Lerninhalte ständig und immer wiederholen - geschweige denn aktiv parat haben. Nur durch die ständige Beschäftigung mit einer Materie auf unterschiedlichen Ebenen wirst zu zum Meister. Analog: Tonleitern oder andere Techniken zu üben bringt dir nichts, wenn du diese Fähigkeit nicht auch dazu einsetzt, ein Musikstück zu interpretieren - sei es eine Improvisation oder eine Komposition.
Um diese Problematik anzugehen, wurden Systeme, wie das Karteikartensystem entwickelt. Auf dem Computer sind SRS-Programme, wie z. B. Anki sehr hilfreich, die dabei helfen sollen, nicht jeden Tag das gesamte und ständig anwachsende Wissen abfragen zu müssen. Im Übrigen gibt es in jedem Gebiet aktives und passives Wissen. Das passive Wissen ist nicht schlecht, es ist sogar notwendig, um deinen Kopf für die wichtigen Dinge (also die oft verwendeten) frei zu halten. Passives Wissen kann man meistens nur schwer aktiv abrufen, ist aber immer dann da, wenn du es benötigst. Wenn du also etwas gut gelernt hast, es aber später nicht so oft, aber doch hin- und wieder auftaucht, dann könnte es zu deinem passiven Wissen werden, und das ist auch gut so.
Es ist meiner Meinung nach sinnvoll, sich möglichst täglich/regelmäßig mit dem Lernstoff beschäftigen, aber es müssen nicht täglich dieselben Übungen/Lerninhalte auf dieselbe Art bearbeitet werden. Im Falle von Japanisch: Neben den Übungen und Lerninhalten viel lesen, viel hören und wenn möglich, das gelernte Wissen so gut es geht auch aktiv anwenden, indem man z. B. kleine Aufsätze und Dialoge schreibt oder sich mit einem Tandempartner unterhält und dabei aktuelle sowie alte Vokabeln, Grammatikformen und Phrasen etc. verwendet; die einzelnen Punkte müssen nicht alle an einem Tag geschehen: Im Gegenteil, man sollte für Abwechslung sorgen, indem man sich ein einem Tag mit einigen Lerninhalten beschäftigt und am nächsten Tag eben mit anderen, um dann am übernächsten Tag vielleicht wieder auf Teile der Lerninhalte des ersten Tages zurückzukommen. Das ist meiner Meinung nach die beste Methode, das Wissen zu festigen und verwendbar zu machen bzw. zu halten. Wenn du z. B. an einem Tag intensiv Kanji lernst und am nächsten Tag Texte liest, in denen Wörter mit den gelernten Kanji vorkommen, dann hast du auch dabei einen Lerneffekt.
Machst du am nächsten Tag nichts, baust du ab und das immer mehr, je länger deine Pause andauert (etwas anderes wäre es natürlich, wenn du in Japan wohnen und leben würdest).
Aber: Es gibt auch Phasen, z. B. vor Prüfungen, vor denen man sehr angestrengt und intensiv gelernt hat, oder überhaupt, wenn man aus welchem Grund auch immer erschöpft ist, da mag es sinnvoll sein, dem Gehirn mal eine kleine Auszeit zu gönnen und mal einige Tage zu pausieren. Mag sein, dass man da auch abbaut, aber das holst du schnell wieder auf, wenn du dann mit frischen Kräften wieder weiter machst. Das ist auf jeden Fall besser, als mit einem ermüdeten Gehirn zu lernen oder zu einer Prüfung zu gehen - Fehler sind dann vorprogrammiert und Fehler beim Lernen bedeuten oft späteren Frust, weil man sie nur schwer wieder los wird.
Zusammenfassend würde ich also sagen, dass jede vollständige Pause dazu führt, dass man einen graduellen Rückschritt macht - ganz besonders dann, wenn die Pause ein bis zwei Wochen andauert. Füllst du diese Pause in einem Bereich (z. B. Kanji) nicht mit Lerninhalten aus anderen Bereichen an (z. B. Textverstehen), so dass du Teile deines zuvor eingeübten Materials quasi nebenbei mit trainierst, machst du Rückschritte, die du dann erst wieder aufholen musst, ehe du wieder weiter kommst - und dadurch verzögert sich dein Gesamt-Lernfortschritt.
Und noch etwas: Es ist besser, ein bisschen lernen als gar nicht zu lernen. Ich kenne diese "ganz-oder-gar-nicht"-Mentalität sehr gut und sie kann dazu führen, dass aus den kleineren Pausen größere Unterbrechungen werden - bis man sich eingestehen muss, dass man eigentlich nun wieder fast von vorne anfangen muss, was auf Dauer recht frustrieren werden kann. Ein Ausweg ist, erst gar keine Ausreden zu suchen, sondern einfach zu lernen, auch wenn man meint, dass man "heute eigentlich gar keine Zeit" hätte. Natürlich hat auch das seine Grenzen, aber man bleibt erst einmal am Ball und der Schritt, aus einer kleineren Übungseinheit eine größere zu machen ist einfacher, als sich nach einer längeren Pause wieder aufraffen und neu anfangen zu müssen.
人生に迷うときもあるけど笑っていれば大丈夫
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 06.10.10 19:32 von Shino.)
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